Heiligabend

 

Wenn es Dir lieber ist, Dir die Geschichte anzuhören anstatt zu Lesen, kannst Du das hier:

Unser Heiligabend

Der Weihnachtsbaum erstrahlte in Gold, glitzerndes Lametta hing in langen Fäden von den Zweigen. In den goldenen Kugeln spiegelte sich das Leuchten der Kerzen, der Weihnachtsstern auf der Baumspitze erstahlte in vollem Glanz und warf helle Strahlen in das Wohnzimmer.

Ich war wie geblendet.

Überall im Raum waren Kerzen verteilt, die eine anheimelnde, warme Atmosphäre verbreiteten. Der Adventskranz hatte vergoldete Zweige, Äpfel und Tannenzapfen, daneben lief eine Weihnachtspyramide, sie warf zauberhafte Schatten an die Decke.

Mein Blick fiel unter den Baum, und blieb an den Gleisen hängen. Vergoldete Schienen…und ein Bahnhof stand daneben, mit schimmernden Lämpchen drin. Im Hintergrund ein kleines Dorf, mit Häuschen, Bäumen, alles erstrahlte in Glanz.

Und dann hörte ich sie.

Die Lokomotive.

Ein Gleis führte hinter dem Tannenbaum hervor, und da kam sie herangeschnauft, eine kleine goldene Dampflok, die eine Rauchwolke ausstiess. Sie schnaufte und puffte und dann kam ein kurzer, schriller Pfiff. Sie zog einen Kohlewagen mit winzigen goldenen Kohlen, und dahinter zwei Güterwaggons.

Die kleine goldene Eisenbahn fuhr nah an mich heran. Dann blieb sie vor mir stehen und stiess noch eine letzte Wolke aus Ruß aus.

Ich kniete mich hin. Ich hatte noch nie so viel glitzernde Pracht gesehen.

Ich konnte kaum atmen. Ich streckte meine Hand langsam aus, um die kleine goldene Lokomotive zu berühren – und wachte auf.

Es dauerte einen Moment, bis ich mich gefasst hatte.

Es war ein Traum, ein wunderschöner Traum, aber leider eben doch nur ein Traum gewesen.

So wirklich, so schön, so echt dass es mir immer noch schien, als ob ich den Ruß der Dampflokomotive riechen könnte.

Stattdessen roch es nach Kaffee.

Ich kletterte aus dem Bett, zog mich schnell an, denn es war kalt im Zimmer. Ich warf einen Blick auf meinen Adventskalender und als ich näher hinschaute, da wurde mir mit einem Schlag klar – das letzte Türchen wird aufgemacht – heut ist Heiligabend!

Ich rannte die Treppe herunter und platzte in die Küche.

“Eine Eisenbahn, eine Eisenbahn, der Weihnachtsmann bringt eine Eisenbahn!” rief ich und umarmte meine Grossmutter.

“Na, na, langsam, mein Kleiner, was ist denn los?” fragte sie mich. Sie brühte gerade Kaffee und konzentrierte sich darauf, den Wasserkessel langsam im Kreis über den Filter laufen zu lassen, um den Kaffee zu konzentrieren.

“Omi, ich hab’s gerade geträumt, die Lok war ganz in Gold, und die Waggons auch, und die Schienen, der Weihnachtsbaum, und die Kerzen, und einfach alles, alles war Gold!”

“Tja, wenn Du das so geträumt hast mein Kleiner, dann wird es schon stimmen. Jetzt geh dir mal die Hände waschen und die Haare kämmen, der Pappi ist schon aus dem Bad, da kannst Du schnell reinhuschen und Dich fertig machen, Frühstück ist schon gedeckt. Los, Abmarsch.”

Ich rannte die Treppe hoch und und machte ganz schnell Katzenwäsche, dann gings runter zum Frühstücken.

Mein Vater sass schon am Tisch und goss sich Tee ein, während die Oma ihren Kaffee genoss.

“Du, Pappi, ich hab von einer goldenen Eisenbahn geträumt….” Fing ich an, er grinste und brummte mit vollem Mund:

“Ja, hab ich schon gehört, das muss ein schöner Traum gewesen sein. So, nun iss aber Dein Brötchen, der Hubert holt uns gleich ab.”

Hubert war Herr Steens, unser Nachbar zur Linken in den Reihenhäusern der Thomas Wimmer Strasse,  wo wir damals in Erding bei München wohnten.

Die Väter duzten sich, aber für mich war er natürlich Herr Steens. Er war ein kurzer, stämmiger Mann mit Halbglatze, Major bei der Bundeswehr im Fliegerhorst Erding. Mein Vater war Zivilangestellter beim Bund, sie kannten sich beruflich und wir waren Nachbarn, daraus war eine enge Männerfreundschaft entstanden, aus der so manche Dummheit und Schabernack entsprang.

Heute sollte es schon ganz früh in den Wald gehen, Anfang November waren wir dort gewesen und hatten uns einen schönen Tannenbaum ausgesucht, er war schon bezahlt und hatte ein Schildchen mit unserem Namen dran. Herr Steens hatte einen Baum gleich daneben gefunden.

Wir hatten selber kein Auto, aber Steens hatten einen Opel Rekord Olympia, und in den packten wir uns nach dem Frühstück alle rein, und los gings.

Hubert Steens Opel Rekord Olympia

Vorne sassen mein Vater und Herr Steens, hinten sass ich mit Sven, Uta, Antje und Heidi.

Es war ganz schön eng, aber das störte uns nicht.

Ich verstand mich gut mit den Steens-Kindern, Sven war schon 10, Uta war wie ich 8, aber schon ein dreiviertel Jahr älter als ich, Antje war ein Jahr jünger, und die kleine Heidi war 6, sie war dieses Jahr eingeschult worden.

“Du, Herr Steens, ich hab heut Nacht von einer goldenen Eisenbahn geträumt, die fuhr auf goldenen Schienen und da war ein goldener Bahnhof, und der Weihnachtsbaum war auch Gold….”

“Goldene Schienen gibts nicht!” unterbrach mich Sven. Er musste den Ältesten bei jeder Gelegenheit rauskehren.

“Gibts doch!” rief Uta, “ist doch Michi sein Traum, da kann er goldene Schienen haben, nicht wahr Papa?”

Uta schlug sich immer auf meine Seite, ich mochte sie sehr. Ausserdem hatte sie lange, blonde, ganz seidige Zöpfe. Nachdem wir ein paarmal mit Heidi zusammen Vater, Mutter und Kind gespielt hatten, beschloss sie, dass sie mich später heiraten würde, wenn wir gross waren.

Allerdings – so vertraute sie mir heimlich an – ihre kleine Schwester, die Heidi, die würde sie nicht mitnehmen, die war ihr zu quengelig und heulte immer gleich, wenn sie ihren Willen nicht bekam, und ging zur Mama petzen.

Deshalb würde Uta ihre Mama fragen, ob sie uns ein frisches Kind machen konnte, ein ganz Liebes das nie quengelte, das sie uns dann zur Hochzeit schenken konnte. Die Idee fand ich gut. Uta war sehr praktisch.

Hier im Auto auf dem Weg zum Baumholen da war ich ihr erstmal dankbar, dass sie meinen Traum verteidigte.

“Also, mit Träumen, das ist so eine Sache, “ hub Herr Steens an. “Meistens haben die gar nichts zu bedeuten. Aber, in der Nacht vor Heiligabend…”

Er machte eine Pause, während er sich auf das Abbiegen auf eine tiefverschneite Seitenstrasse konzentrierte.

Der Wagen rutschte etwas auf dem frischen Schnee, der über Nacht gefallen war, und Herr Steens korrigierte kunstvoll, so dass der Opel nach leichtem Schlingern wieder in der Spur rollte.

“Was ist mit der Nacht vor Heiligabend, Papa?” drängelte Uta. “Sag doch schon!”

“Also so ein Traum, vor allem so ein Traum mit viel Gold drinne, das ist schon mal ein gutes Omen.”

“Wer ist denn der Omen, Papa?” fragte Heidi. Ich war froh dass Heidi fragte, weil ich es auch nicht wusste, aber mir keine Blösse vor Sven geben wollte.

“Nicht der, sonder das Omen, also, das ist fast ein bischen wie so ‘ne Vorhersage, also jetzt nicht die Wettervorhersage, aber so ähnlich. Mensch, jetzt hilf mir Mal, Karl-Heinz”, wandte er sich an meinen Vater, “Du liesst doch all die klugen Bücher, jetzt wende doch all Dein nutzloses Wissen mal an…”

“Omen, das ist so ’ne Mischung zwischen Oma und wenn man am Ende vom Gebet Amen sagt…” fing mein Vater an, und alle lachten.

“Na gut, also ein Omen ist, wie der Hubert schon ganz richtig sagt, eine Vorhersage. Als ob eine Wahrsagerin Dir in die Hand schaut, und an den Lebenslinien Dir die Zukunft vorraussagt, und dann trifft das später genau so ein, das ist so ein Omen.’

“Genau, sag ich doch,” lachte Herr Steens, und fuhr fort:

“Und wenn Du einen Traum vor Heiligabend hast, dann geht das sicher in Erfüllung.”

Er schaute ernst in den Rückspiegel, und fixierte Sven mit seinem Blick.

“Stimmt doch, Sven, oder?” Sven grinste, und zwinkerte seinem Vater zu.

“Stimmt, Herr General, hatte ich ganz vergessen, Omen und so.”

Das überraschte mich jetzt, dass Sven so schnell nachgab.

“Siehste, sag ich doch!” rief Uta, und legte mir den Arm um die Schultern.

“So, jetzt ist aber genug mit goldenen Lokomotiven,” rief Herr Steens, “Alle raus, wir sind da!”

Da waren schon eine ganze Reihe anderer Autos am Waldrand geparkt, und man sah Männer mit Äxten und Sägen im Wald verschwinden. Ein paar Kinder hatten begonnen, am Rand des Parkplatzes einen Schneemann zu bauen, während sich eine Gruppe von älteren Jungen und Mädchen eine Schneeballschlacht lieferte.

Wir stapften hinter unseren Vätern in den Wald.

“Immer schön zusammen bleiben, ich hab keine Lust, am Heiligabend eine Hubschrauberstaffel als Suchtrupp auszuschicken!” kommendierte Herr Steens mit einem Augenzwinkern.  Wir wussten dass er es – trotz Augenzwinkern – ernst meinte.

Ute nahm meine Hand, und Heidi, die Jüngste, meine Andere. Antje und Sven bildeten den Abschluss, oder wie Herr Steens es nannte – die ‘Nachhut’.

Tiefer und tiefer ging es in den Wald. Obwohl der Pfad an den Bäumen farbig markiert war, kam es uns Kindern doch im Halbdunkel unter den schneebedeckten Tannen ein bichen mulmig vor. Es war sehr still, man hörte nur das Knirschen unserer Stiefel im Schnee, und unser schweres Atmen.

Nach einer Weile kamen wir an die grosse Lichtung, die uns zur Schonung führte, die von vielen kleinen Tannenbäumen umsäumt war.

Hier fanden wir nach etwas Suchen unsere markierten Bäume mit den Namensschildchen dran, wir mussten erstmal den dicken Schnee von den Zweigen klopfen, um die Schildchen zu entdecken. Die Männer hackten und sägten fachmännisch, bis die Stämmchen durchgetrennt waren.

Dann fassten wir alle gemeinsam ein paar Zweige an und stapften wieder zurück zum Parkplatz. Als wir aus dem Wald hervortraten, stellten wir fest, dass es schon länger geschneit haben musste, die Autos waren von einer neuen Schicht Schnee bedeckt.

Mein Vater und Herr Steens wischten die Scheiben frei, dann packten sie die Bäume vorsichtig in den Kofferraum, zurrten sie mit Stricken fest, und los gings.

Dachten wir.

Als Herr Steens zurücksetzte, fühlten wir einen kurzen Ruck, und dann drehten die Hinterräder durch.

“Karl-Heinz, nimm Dir mal die Fussmatten, Jungs, kommt nochmal raus aus dem Wagen, ihr müsst helfen.”

Herr Steens befahl Sven und mir, uns auf die Zweige in den offenen Kofferraum zu setzen, mit den Füssen auf der Stoßstange, um mehr Gewicht auf die Hinterachse zu bekommen.

Mein Vater legte die Fussmatten vor die Hinterräder, dann startete Herr Steens erneut den Wagen. Er lies die Kupplung ganz langsam im zweiten Gang kommen, und rollte behutsam los, dann schrie er uns durch das offene Fenster zu:

“Abspringen Jungs, und rein auf die Rückbank! Karl-Heinz, schnapp Dir die Fussmatten, Mädels, haltet die Türen auf, ich muss rollen, sonst sitzen wir sofort wieder fest!”

Sven und ich sprangen aus dem Kofferraum, und liefen hinter dem Wagen her. Mein Vater sammelte die Matten auf, rannte zur Beifahrertür, sprang hinein und schlug die Tür mit einem Knall zu.

Antje und Uta hielten die Hintertüren für uns auf und schrien, “Schneller, schneller, los jetzt, sonst lassen wir euch im Wald!”

Wir rutschten ein paar Mal im Schnee aus, aber schafften es, mit dem Wagen gleichauf zu kommen, griffen nach den Sitzen und warfen uns mit lauten Geschrei hinein. Uta und Antje kreischten als wir auf ihnen landeten. Wir schrien und lachten durcheinander,  ausser Atem von der Aufregung.

“Gut gemacht, Kompanie,” lobte Herr Steens von vorne, “Operation Tannenbaum verläuft planmässig, schlage vor – geordneter Rückzug nach Hause,”

“Jawoll, Herr General!” schrien Uta, Antje und Sven.

Wir schlingerten noch ein paar Mal bedenklich auf dem eisigen Feldweg durch die verschneiten Kurven, dann wurde es besser, sobald wir auf Landstrasse wieder auf festgefahrenem Schnee fuhren. Es ging zügig zurück nach Erding.

Zu Hause angekommen luden wir die Bäume aus, ich half meinem Vater unseren Baum auf die Verandah zu tragen.

Wir schüttelten ihn tüchtig, um den Schnee von den Zweigen zu bekommen. Da kam Sven um die Ecke gerannt und rief:

“Michi, hast du noch Lust Schlitten zu fahren, mein Vater zieht uns?”

“Au ja, Pappi, darf ich?” Mein Vater nickte und fügte hinzu “Du bist ja sowieso schon ganz nass von den Zweigen, macht ein bischen Rodeln auch nicht schlimmer!”

Ich holte schnell meinen Schlitten aus dem Keller und lief nach vorne raus zur Strasse.

Herr Steens hatte ein langes Seil aus der Garage geholt, es hinten an der Stoßstange seines Opels verknotet, und befestigte einen Schlitten nach dem anderen in einer langen Reihe hintereinander.

Am Ende mögen es wohl so 5 oder 6 Schlitten gewesen sein, unsere Freunde aus der Nachbarschaft Dietmar, Robbie und Heiner waren auch dazu gekommen. Robbie und Heiner hatten ihre Schwestern Heike und Ulrike mitgebracht. Alle redeten durcheinander.

“So, mal ein bischen Ruhe im Karton,” rief Herr Steens.

Er teilte uns so ein, so dass auf jedem Schlitten ein Mädchen mit einem Jungen sass und zwischen jedem Schlitten waren mehrere Meter Abstand.

“Jetzt hört genau zu, das ist wichtig – immer leicht abbremsen mit den Hacken, so daß das Seil gespannt bleibt. Drauf achten, dass ihr nicht mit dem Schlitten übers Seil rutscht, sonst wirds gruselig, da könnt ihr leicht abgeworfen werden.

“Wenn was ist, dann schreit ihr. Und wenn ihr runter fallt, oder ich hart bremsen muss, dann rollt euch zum Strassenrand hin. Sven – was machen Jungs?”

“Jungs passen auf die Mädchen auf!” rief Sven und grinste breit. Er legte seine Arme um Ulrike, die vor ihm sass.

“Aufpassen, nicht umgarnen Sven!” lachte Herr Steens und drohte seinem Sohn spielerisch mit dem Finger.

“Und die Mädchen auf die Jungs!”, bestimmte Uta, setzte sich hinter mich und verschränkte ihre Hände vor meinem Bauch. Sie war einen halben Kopf grösser als ich, also musste ich vor ihr sitzen.

Ich hielt mich vorne an den Kufen fest.

Herr Steens setzte sich in den Wagen und fuhr ganz langsam los.

Heidi lehnte sich aus dem Fenster der Beifahrertür und schaute, ob es Probleme gab.

So weit so gut.

Es ging ein kurzer Ruck durch den Schlitten, wir nahmen an Fahrt auf, dann kam ein kurzer Schlupfer, als Herr Steens in den zweiten Gang schaltete.

Erneut ging ein Ruck durch die Schlitten, wir wurden nach vorne gerissen, Uta schrie vor Verngnügen “Schneller Papa, schneller!”

Ich klammerte mich fest an die Kufen, während Uta hinter mir unseren Schlitten routiniert mit ihren Stiefeln lenkte, so dass er in gerader Linie hinter dem Wagen blieb. Ich schaute mich um.

Die anderen Schlitten schlingerten ein bischen, am Schlimmsten brach der Letzte in der Reihe  aus. Ich hörte lautes Fluchen als Robbie und Heike vom letzten Schlitten geschleudert wurden, sie landeten mitten auf der Stasse auf ihren Hintern. Heike schlug wütend mit ihren Fäusten auf die vereiste Strasse.

Dann kam nochmal ein leicher Ruck, Herr Steen hatte den dritten Gang eingelegt und wir fuhren noch schneller. Wir schrien und lachten, obwohl uns der eisige Fahrtwind in die Augen stach, es war wunderbar.

Wir kamen zu einer langen Kurve, Herr Steens fuhr sie weiträumig an, so dass wir nicht alle in den Schneehaufen am Stassenrand landeten. Der Schlitten mit Dietmar schlingerte allerdings zu weit raus, und er wurde abgeworfen.

Er rappelte sich schnell auf, rannte hinter uns her und warf sich mit einem Schrei wieder auf den Schlitten. Er konnte ihn nur halb zu packen kriegen und hing mit der Brust und den Armen auf den Brettern, sein Bauch und die Beine hingen hinten über und schlurften im Schnee.

Heidi lehnte sich aus dem Fenster und rief:

“Abbremsen, wir kommen zur Riverastrasse!  Bremsen, bremsen!”

Ich sah die roten Bremsleuchten aufleuchten, und Uta stemmte ihre Hacken in den Schnee, sie schrie über ihre Schulter:

“Bremsen, Kreuzung, alle bremsen!”

Wir lehnten uns alle zurück und stemmten unsere Stiefel in die vereiste Strasse, so wie es uns Herr Steens erklärt hatte. Obwohl er sehr vorsichtig und behutsam bremste,  rutschten wir immer näher an die Stoßstange heran.

Uta rief mir zu “Michi, Beine hoch, abblocken!” und ich streckte beide Beine aus, fing den Schlitten im letzten Moment ab, bevor wir in die Stoßstange krachten.

Ich war sehr stolz auf meine Rodelkünste. Der Wagen kam zum Halt und die Anderen stiessen nacheinander von hinten in unseren Schlitten. Das war ein grosses Hallo und Gekreische.

Herr Steens stieg aus, er rief uns zu, die Schlitten mit der Hand zu führen, während er umdrehen würde.

Die Autos auf der Riverastrasse warteten geduldig, bis wir unsere Karawane umgedreht hatten und uns wieder auf den Weg machten. Manche hupten, winkten uns fröhlich zu, ein paar Kinder waren ausgestiegen und warfen mit Schneebällen nach uns. Wir wollten uns der Schneeballschlacht stellen, aber Heer Steens rief :

“Los, Kompanie aufsitzen, es geht nach Hause!”

Wir sprangen auf die Schlitten, und los gings. In der Kurve fielen Heiner und Antje vom Schlitten, Uta und ich schafften es fast den ganzen Weg zurück im Sattel zu bleiben.

Plötzlich setzte ein Wagen aus einer Garage zurück, er sah Utas Vater nicht, erst im letzten Moment, als Herr Steens hupte, bremste das andere Auto, aber es war zu spät.

Der Opel kam auf dem glatten Schnee ins Schlittern, Herr Steens korrigierte, gab leicht Gas und schaffte es, am Heck des anderen Wagens vorbeizuziehen.

Aber in dem Moment, als Utas Vater wieder Gas gab, ging ein harter Ruck durch unseren Schlitten, der uns beide abwarf.

Uta riss mich hoch, der Schlitten überschlug sich, ich rutschte auf der vereisten Strasse aus und schlug hart mit meiner Nase gegen ihren Kopf. Sie packte meinen Arm und wir stürzten in einen Schneehaufen.

Schon schoss der nächste Schlitten mit Sven und Ulrike heran und verpasste mich um Haaresbreite.

Uta zog mich langsam hoch, ich war ganz benommen von dem Nasenstüber.

“Hat’s weh getan?” fragte sie mich und sah mich prüfend an. Ich schüttelte tapfer den Kopf, während mir die Tränen aus den Augen schossen.  Ich spuckte etwas Schnee aus.

“Au weia, Deine Nase blutet, hab Dir aber einen derben Stüber verpasst!”

Sie zog ihren Handschuh aus, und wischte mein Gesicht mit einer Handvoll Schnee.

“Setz Dich wieder hin, mach den Kopf in den Nacken. So….genau….”

Mir war ganz schummrig zu Mute, ich bekam gar nicht so richtig mit, was geschah.

Der Schnee im Gesicht war angenehm, die Kälte tat gut.

“Hört sicher gleich auf zu Bluten. Hast Du ein Taschentuch? Hier, ich mach Schnee rein, halt es drunter. Bist Du noch schwindlig?”

Sie half mir hoch und nach ein paar Schritten ging es schon wieder, die Benommenheit wich.

Nur die Nase pochte, fing an, jetzt tüchtig weh zu tun.

Zum Glück blutete sie nicht mehr!

Wir schlossen zu den anderen Kindern auf.

Herr Steens war inzwischen ausgestiegen und grinste in die Runde..

“Na, Kinder, hat’s Spass gemacht?”

“Ja, prima, ganz toll, danke Herr Steens” schrien wir alle durcheinander.

“Morgen schaun wir mal ob es so weiter schneit. Vieleicht können wir nochmal die Schlitten ziehen, sogar einmal ums ganze Viertel.”

“Au ja, auf jeden Fall!” riefen wir begeistert.

Herr Steens war ein toller Kerl, immer für einen Schabernak zu haben, und für uns Kinder tat er alles.

“Irgendwelche Verletzten? Muss amputiert werden?” fragte er in die Runde.

“Alles Bestens, Herr General,” rief Uta, während sie sich vor mich stellte, so dass er die Blutflecken auf meiner Jacke nicht sehen konnte.

Wir entwirrten das Seil, und jeder griff seinen Rodelschlitten. Ich half Uta, das lange Seil in die Garage  zu tragen, dann zog sie mich hinter die Mülltonne.

“Halt mal still, ja so…” befahl sie, nahm mein Tasschentuch, fand eine saubere Stelle, spuckte hinein, und wischte mir den Rest vom getrockneten Blut unter der Nase weg.

Sie schaute mich nochmal prüfend an, wischte noch was von meinem Kinn ab, dann griff sie sich eine Handvoll Schnee und rubbelte hart über meine Jacke, um die Flecken aufzulösen.

“Ich kriegs nicht alles weg, das muss erst mal reichen. Vielleicht merkts ja Keiner, wenn du die Jacke gleich weghängst. Und wenn Deine Oma doch fragt, sagst Du, Du bist im Wald gegen einen Ast gelaufen oder so, sonst verbietet meine Mutter dem Papa nochmal mit uns Auto-Rodeln zu fahren!”

Ich nickte. “Danke fürs Verarzten. Und dass vorhin auf der Strasse, toll, der Sven hätte mich sonst voll im Kreuz erwischt…”

“Schon gut,” grinste sie, und boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter.

“War trotz der Nase prima, nicht wahr?” fragte sie.

“Ja, das wars,” stimmte ich zu.

“Fröhliche Weihnachten, Michi. Ich seh Dich vielleicht noch später. Ich hoffe, Du kriegst die Eisenbahn…”

Sie drehte sich um und lief zur Eingangstür.

“Und Du Dein Puppenhaus! Fröhliche Weihnachten!” rief ich ihr nach, dann klingelte ich an der Haustür.

“Mein Gott Jungchen, was bist Du dreckig und nass, jetzt aber raus aus den schmutzigen Klamotten!” rief meine Oma, als sie mich sah.

Ich nickte nur, senkte meinen Kopf, und zog mir die Schuhe, die nassen Hosen und die Jacke aus. Dann wusch ich mir die Hände, zog eine frische Hose an und kam runter.

Meine Oma hatte zum Mittagessen gerufen.

Die Erklärung mit dem Ast im Gesicht wurde nicht weiter hinterfragt, obwohl mein Vater mich ein bischen misstrauisch anschaute.

Es gab Hühnersuppe mit Nudeln, das war lecker.

Ich spähte von der Essecke rüber ins Wohnzimmer.

Während ich Schlitten fahren war, hatte mein Vater ein altes Stück Teppich aus dem Keller geholt, das schon von früheren Weihnachtsfesten mit Kerzenwachs übersät war. Darauf hatte er einen alten Holzkoffer aus Wehrmachtszeiten plaziert. Drinnen lagen 4 grosse Ziegelsteine als extra Gewicht, die verhindern sollten, dass der Baum kippte. Darauf war der eiserne Baumständer festgezurrt, darin hatte er den Baumstamm festgeschraubt.

Auf dem Teppich hatten sich dunkle Flecken gebildet, das war der Rest des Schnees und kleine Eisstückchen, die jetzt bei der Zimmertemperatur schmolzen und abtropften. In ein paar Stunden würden sie weggetrocknet sein.

Das Wohnzimmer roch wunderbar nach frischem Tannenduft und ein kleines bischen nach Harz.

Nach dem Mittagessen gings nach oben, Mittagsschlaf halten.

Ich hasste Mittagsschlaf, ich war doch kein kleines Kind mehr, ich war doch schon groß!

Ich schlurfte langsam die Treppe zum 1.Stock hinauf, wo die Schlafzimmer und mein Kinderzimmer waren. Wie immer zählte ich die Engel auf der Treppe, die in der Adventszeit zur “Engel Treppe” wurde.

Auf jeder Stufe stand in der Ecke ein Engel – da waren einfache Strohengel, kleine Rauschgoldengel, aus Holz geschnitzte Engel, ein Glasengel, in dessen Hände man kleine Kerzen stecken konnte, und zwei kleine Goebel Engel, mit denen immer sehr vorsichtig umgegangen werden musste, weil sie aus Porzellan waren.

Ich trödelte noch ein bischen herum bis meine Oma herauf kam und mich ins Bett scheuchte. Dann legte sie sich selber auf ihr Bett, um 10 Minuten Augenpflege zu machen.

Das Haus war still.

Ich lauschte angestrengt, ob ich irgendwas von unten vom Wohnzimmer hörte.

Nichts.

Ich merkte gar nicht, wie müde ich von den Abenteuern des Vormittags war und dann muss ich doch ganz fest eingeschlafen sein.

Diesmal träumte ich nichts, oder ich erinnere mich einfach nicht mehr dran. Ich wachte auf, als meine Oma mich an der Schulter rüttelte und sagte:

“Aufwachen mein Kleiner, ist schon fast 2 Uhr, Kaffeezeit.”

Sie hatte Tee für den Pappi gemacht, eine Tasse Kaffee für sich selbst und ich bekam eine Tasse heissen Kakao. Dazu gab es leckere Vanille Kipferl, die Tante Ulla gebacken hatte und uns am Vormittag vorbei gebracht hatte.

Tante Ulla und Onkel Romi wohnten in Freising, das war 17 Kilometer von Erding, und wir besuchten uns oft gegenseitig. Sie hatte auch Makronen gebacken, die mochte ich nicht so gern, und kleine runde Kekse mit Marmelade in der Mitte, die waren auch ganz lecker.

Als sie die Kekse vorbei brachte roch unsere Wohnung noch mehrere Stunden nach frischem Weihnachtsgebäck, die Kekse waren noch ganz warm und die Oma liess sie langsam abkühlen.

Meine Tante würde uns sicher morgen fragen, wie die Kekse denn schmeckten. Tante Ulla aß niemals Süssigkeiten, sie backte die leckersten Kekse und Kuchen, ihre gebackene Käsetorte war legendär, aber sie selbst probierte nie davon.

Ich hab das nie verstanden – wie konnte man all diese Leckereien backen und nicht davon naschen? Aber Tante Ulla aß lieber Obst, also gab’s mehr Süssigkeiten für uns. Da beschwerte ich mich auch nicht!

An Heiligabend wurde mein Kinderzimmer am Nachmittag praktisch zum Eßzimmer umfunktioniert.

Es war nämlich das größte Schlafzimmer, in den anderen Reihenhäusern war es das Elternschlafzimmer, aber da mein Vater geschieden war, hatte ich das große Zimmer als Kinderzimmer bekommen und mein Vater und meine Oma hatten jeder eins der beiden kleineren Schlafzimmer. Deswegen kamen alle Nachbarskinder immer gerne zum Spielen zu mir, weil ich das größte Spielzimmer hatte.

Meine Oma hatte den Tisch mit einer Weihnachtsdecke dekoriert und schon aufgedeckt. Mein Vater kam langsam die Treppe herauf, er trug einen großen dunklen Kasten mit sich.

“Was ist das denn?” fragte ich.

“Das ist ein extra Lautsprecher, der Hubert hatte ihn übrig, er hat mir gezeigt, wie ich ihn mit einem langen Verlängerungsdraht am Radio anschliesse. Ich muss nur noch das Stromkabel hier oben einstöpseln und dann könnt ihr auch das Weihnachtsprogram hören.”

Da war ich aber gespannt drauf.

Er steckte das Stromkabel ein und drehte an einem Knopf. Ein kleines Licht glühte schwach auf und dann hörte ich etwas. Pappi drehte langsam den Knopf auf der Rückseite, der die Lautstärke regelte und plötzlich erschallte Weihnachtsmusik aus dem Lautsprecher.

Einfach magisch!

Nach den Nachrichten kündigte die Dame im Lautsprecher an, dass gleich das Märchen “Der Tannenbaum” von Hans-Christian Andersen vorgelesen würde.

“Du hast doch das Buch mit den Märchen von Andersen, nimm es raus und lies mit, wenn Du es im Radio hörst,” schlug mein Vater vor.

“Das mach ich!” rief ich begeistert. Ich suchte mir das Buch aus dem Regal, es stand zwischen den Brüdern Grimm und dem Struwwelpeter.

Das Verlängerungskabel reichte nur von unten bis in den Flur im 1.Stock, deshalb trug ich meinen Stuhl in die Diele, bei der obersten Treppenstufe und setzte mich neben den Lautsprecher. Mein Vater brachte mir einen kleinen Hocker für die Füße und eine Wolldecke, denn es war doch recht kalt im Flur. So war ich schön warm eingemummelt und wartete darauf, dass sie im Radio anfingen mit dem Märchen.

Ich schlug mein Buch auf und suchte nach dem “Tannenbaum”.

Gefunden!

Als die tiefe sonore Stimme des Vorlesers dann den Raum erfüllte, stellte ich mir einen bärtigen, alten Nikolaus mit weissem Haar und großer Brille vor, der die Geschichte vorlas.

Dann verlor ich mich mehr und mehr im Märchen.

Ich hatte die Geschichte vom Tannenbaum bis dahin noch nicht gelesen, irgendwie waren mir die Andersen Märchen ein bischen umheimlich im Vergleich zu den Grimms Märchen. Mein erstes Andersen Märchen war “Die Prinzessin Auf der Erbse” gewesen und ich verstand nicht richtig, um was es da eigentlich ging. Danach hatte ich das Buch erstmal für eine Weile weggelegt.

‘Der Tannenbaum’  war hingegen leicht zu verfolgen, und ich war ziemlich stolz darauf, dass ich dem Vorleser im Lautsprecher mühelos in meinem Buch nachfolgen konnte. Zeile für Zeile folgte mein kleiner Zeigefinger den Worten, während die Abenteuer des Baums sich vor meinem geistigen Auge erschlossen.

Ich verstand die kindliche Ungeduld des kleinen Baums, der es nicht erwarten konnte, groß zu sein und in die Stadt zu reisen, freute mich als es dann endlich so weit war für die Reise in die Stadt und wartete voller Spannung wie der Baum geschmückt wurde und dann endlich Bescherung war.

Unser Baum hatte genau so eine abenteuerliche Geschichte hinter sich, bis er endlich bei uns gelandet war!

Auf das Ende der Geschichte war ich dann so gar nicht vorbereitet.

Das elende Austrocknen auf dem dunklen Dachboden, wo er die Nadeln verlor und das die Mäuschen dann auch nicht mehr kamen, weil er immer nur die selbe Geschichte erzählte so dass er dann am Ende einsam und allein im Dunkeln stand – das betrübte mich.

Als er schließlich am Ende der Geschichte sein kurzes Leben im Feuer aushauchte, da war ich richtig traurig.

Ich klappte das Buch zu, saß im Flur und dachte an die Träume und die Ungeduld des kleinen Baums.

Das Program im Radio ging mit einem fröhlichen Kinderchor weite, der lauthals “Kling, Glöckchen, Klingelingeling” sang, was mir so gar nicht zu dem betrüblichen Ende des Märchens passen wollte.

Da roch ich Zigarrenrauch, ein sicheres Zeichen, das der Pappi seine besondere Weihnachtszigarre angezündet hatte. Der Rauch kroch unter der Wohnzimmertür durch und strömte langsam nach oben zu uns.

Mein Vater rauchte Winston Zigaretten, aber einmal im Jahr, an Heiligabend, gönnte er sich eine ganz spezielle, teure Zigarre, das gehörte zu seinem Ritual, wenn er begann, den Baum zu schmücken, die Krippe aufzubauen, die extra Kerzen im Wohnzimmer zu verteilen und am Ende die Geschenke unter dem Baum zu verteilen. Dazu ein Gläschen Drysack Sherry, da war der Heiligabend für ihn genau so, wie er sein mußte.

Ich schnupperte und sog den Geruch der Zigarre ein. Er bedeutete, dass das lange Warten auf die Bescherung sich nicht mehr endlos hinziehen würde. Zigarettenrauch fand ich eklig, aber der Duft der Heiligabendzigarre hatte immer etwas Magisches für mich.

Ich stand auf und trug das Märchenbuch zurück in mein Zimmer und stellte es ins Regal. Ich würde es für mehr als ein Jahr nicht anfassen, so sehr hatte mich das Ende des Märchens betrübt.

“Na, war das schön, das Märchen mitzulesen?” fragte mich die Oma.  Ich brummte unwillig und fragte:

“Können wir unseren Weihnachtsbaum nach Neujahr in den Garten pflanzen und dann nächstes Jahr zu Weihnachten reinbringen und neu schmücken?” fragte ich zurück.

“Nein, das geht leider nicht, Michele, der Boden ist doch gefroren, da wächst Nichts an, was Du da jetzt eingräbst, das verdorrt sofort.”

Und er hätte ja auch gar keine Wurzeln, der würde nicht wieder anwachsen, ein Weihnachtsbaum ist immer nur für zwei Wochen gut. Spätestens am 6. Januar, dem Dreikönigstag, sei es vorbei.

“Aber heute Abend, am Heiligabend, da wollen wir uns schön am frischen Baum erfreuen, nicht wahr?” sagte sie.

Ich nickte.

“Komm, jetzt trag Deine Geschenke nach unten vor die Wohnzimmertür, damit der Weihnachtsmann sie findet und unter den Baum legen kann, wenn er später vorbei kommt.”

Ich suchte die Geschenke für meinen Vater und die Omi heraus, man konnte sie nicht verwechseln, sie waren furchtbar ungeschickt verpackt und mit Unmengen von Tesafilm verklebt.

Dieses Jahr waren es selbstgerollte Bienenwachs Kerzen geworden.

Die Oma hatte sie beim Einkaufen Anfang Dezember entdeckt und beschlossen, dass sie prima Geschenke abgaben. Ich war froh, dass sie mir das Aussuchen abgenommen hatte, ich hatte wir schon den Kopf zerbrochen, was ich zu Weihnachten basteln konnte.

Weihnachstgeschenke kaufen kam nicht in Frage, zum Einen hatte ich ja gar kein Taschengeld, das kam erst, als ich 11 Jahre alt wurde.

Und zweitens war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Kinder Geschenke basteln sollten.

Angeblich freuten sich die Erwachsenen über selbstgebastelte Geschenke viel mehr, als über irgendwas Gekauftes. Ich war mir da nicht so sicher. Und sollte nicht der Weihnachtsmann oder das Christkindl die Geschenke bringen – wie passte das Alles zusammen, und welche Rolle spielte eigentlich der Nikolaus, oder war er der Weihnachtsmann?

Falls das stimmte, dann musste er doppelt arbeiten, sowohl am 6. Dezember, dem Nikolaustag, als auch am Heiligabend. Na ja, das war nicht so schlimm, schiesslich hatte der gute Mann den Rest des Jahres frei um sich zu erholen.

Die fehlende Logik ums Christkind störte mich nicht so besonders, ich ahnte inzwischen schon, dass die Geschenke vom Pappi, Omi, Tante Ulla und Onkel Romi kamen.

Aber es fuchste mich dann doch, als Sven vor ein paar Wochen auf dem nach Hause Weg von der Schule großspurig verkündet hatte, er wüsste ganz genau wer die Geschenke am Heiligabend bringen würde und es sei ganz gewiss nicht der Weihnachtsmann.

“Halt die Klappe, Du weisst überhaupt nix!” rief Uta, und knuffte ihn mit dem Elbogen in die Rippen.

“Der letzte zu Hause ist ein elender Verlierer,” rief sie und rannte los, ihre Zöpfe schwangen wild hin und her. Sven und ich versuchten aufzuholen.

Sven überholte sie nach ein paar Metern mühelos und hatte schnell einen großen Abstand zwischen uns gelegt. Uta lief langsam aus und wartete auf mich.

“Hör nicht auf Sven, der macht sich nur wichtig, ” sagte sie und nahm meine Hand.  Wir stapften zusammen am Ufer des Fehlbachs entlang und vertrauten uns unsere Weihnachtswünsche an.

Aber ich schweife ab.

Mädchen mit langen Zöpfen können einen schon hin und wieder ablenken.

Also zurück zum Geschenke Basteln.

Aus Bienenwachs Kerzen zu rollen hatte Spass gemacht, mal was Anderes als Bilder malen oder Engel aus Stanniolpapier Schneiden und Kleben.

Die Kerzen rochen lecker nach Honig, und die Oma musste mich immer wieder ermahnen, damit ich nicht die Wachsquadrate ableckte.

Sie holte kleine Kärtchen heraus und mit meiner krakeligen Handschrift schrieb ich “Von Michael für Pappi”, und “Für Omi von Michael” drauf, dann stanzte sie ein Loch hinein und befestigte die Kärtchen mit einem roten Band. Jetzt sahen meine Geschenke plötzlich ganz passabel aus.

Ich trug sie die Treppe runter und legte die kleinen Päckchen in die Ecke vor der Wohnzimmertür. Ich hockte mich vor das Schlüselloch, kniff ein Auge zu und lugte vorsichtig mit dem anderen Auge durch das Loch. Kein Glück, da war nix zu erspähen, mein Vater hatte ein dunkles Tuch über das Schloss gehängt.

Ich legte ein Ohr an die Tür.

Ich hörte ein leises Scheppern, und erkannte am Ton – das musste eine der Christbaum Dekorationen sein, die wie eine kleine Glocke ausahen, mit einem winzigen Klöppel drin.

Ich ging die Treppe zurück nach oben, setzte mich wieder in den Flur, und drehte die Weihnachtsmusik ein bischen lauter.

Da kamen nochmal Nachrichten, und dann begann ein Programm für Auslandsdeutsche, die fern der Heimat den Heiligabend getrennt von ihren Familien verbringen.

Es hieß “Gruss an Bord”.

Es wurden Grüsse ans andere Ende der Welt gesendet, ich erinnere mich vage an Valparaiso, Auckland, Kapstadt, New York. Die Häfen klangen fremdartig und exotisch.

Die Grüsse gingen an Matrosen, die während der Weihnachtszeit auf einer fernen Route in Übersee waren, und es daher nicht geschafft hatten, zu Heiligabend zurück nach Deutschland zu ihren Familien zu kommen.

Niemand konnte es sich damals einfach so leisten, zu Weihnachten extra zurück nach Hause zu reisen. Weihnachten passte da nicht hinein, das war ein Tag wie jeder andere.

Der Mann im Radio las Briefe vor mit Weihnachtsgrüssen und Nachrichten der Familien an die Matrosen, und da kam es schon vor, dass er kurz innehalten musste, sich räusperte, und seine Stimme ganz belegt wurde.

Ich erinnere mich an  einen Brief von einem Mädchen und einem Jungen, die hatten an den Papa geschrieben und fragten, wann er denn wieder nach Hause kommen könnte. Sie schrieben, wie sehr sie ihn vermissten und wie lieb sie ihn doch hätten. Sie erzählten, was sie für ihn gebastelt hatten und dass sie auf ihn warten würden, damit sie dann hoffentlich im Sommer zusammen die Geschenke auspacken könnten.

Dann stellten der radiomann eine Verbindung über Funktelefon mit einigen Matrosen auf See zur Verfügung, deren Familien konnten ihre Grüsse persönlich an sie richten. Es waren kurze Gespräche, oft war die Verbindung furchtbar schlecht, es rauschte, knackte und manchmal verschwanden die Stimmen, dann kamen sie wieder.

Je länger ich zuhörte, um so schwerer wurde mir ums Herz.

Da kamen Familien nicht zu Heiligabend zusammen und sie vermissten einander furchtbar.

Ich hörte ein Kind im Hintergrund weinen. Der Vater sagte, dass sie ganz tapfer sein müssten, immer gut zur Mutter und es ihr nicht schwer machen sollten. Er vermisse sie Alle sehr und wünschte, er könnte bei ihnen unter dem Baum sitzen.

Ich merkte gar nicht, wie mir die Tränen über die Wangen liefen.

Ich konnte ja hören, wie traurig die Menschen im Radio waren am Heiligabend, der doch für alle der Schönste Tag im Jahr sein sollte.

Dass Schicksal der Matrosen und ihrer Familien, die an Weihnachten nicht zu Hause  zusammen sein durften, zerriss mir das Herz.

Ich rannte ins Kinderzimmer zur Oma. Sie legte ihr Buch weg, nahm mich in die Arme und fragte:

“Was ist denn los mein Kleiner, warum weinst Du denn?”

Ich hatte Mühe zu sprechen und brachte unter Schluchzen nur heraus “Die…die Matrosen …. die sind so weit weg… und die sind doch so furchtbar alleine….und die Kinder haben ihren Papa nicht an Weihnachten…”

Ich begrub mein Gesicht in ihrem Arm, und weinte hemmungslos.

Die Großmutter drückte mich fest an sich.

“Ja…das ist schon traurig…da ist schlimm für die getrennten Familien…” sagte sie und steichelte mir den Kopf.

Dann sang sie leise das alte Lied, das sie immer sang, wenn ich mir weh getan hatte:

Heile, heile Gänschen –

Es wird bald wieder gut.

Das Kätzchen hat ein Schwänzchen –

Es wird bald wieder gut.

Heile, heile Mäusespeck –

In hundert Jahren ist alles weg!”

Es half, getröstet zu werden, ich hörte auf zu weinen und die Oma schlug vor:

“Weisst Du was, es ist ja noch ein Weilchen bis zur Bescherung, lass uns noch einen kleinen Spaziergang machen, es hat gerade wieder angefangen, zu schneien, ein bischen kalte, frische Luft wird uns beiden gut tun, das bringt uns sicher auf andere Gedanken.”

Sie wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, dann zogen wir uns warm an für den Spaziergang.

Es hatte erneut begonnen zu schneien und eine dicke Schicht Pulverschnee bedeckte den Fussweg. Auf der Strasse war nur noch eine einzige dünne Fahrspur zu entdecken, die wohl auch bald verdeckt sein würde. Es fuhren kaum noch Autos, die Läden hatten am Heiligabend seit 12 Uhr Mittags geschlossen und wer konnte, vermied es jetzt noch unterwegs zu sein.

Der frische Schnee knirschte unter unseren Stiefeln und schluckte fast jedes Geräusch. Es dämmerte schon, die Strassenlaternen warfen ein trübes Licht, das kaum gegen den stetigen Schneefall  ankonnte.

“Hör mal mein Kleiner,” sagte meine Oma,  “das mit den Matrosen und ihren Familien, die sich an Weihnachten nicht besuchen können, das ist zwar traurig.

Aber denk mal – ist es nicht schön, dass sie durch das Radio aus der Ferne Grüsse geschickt bekommen und Einige haben sogar richtig mit ihren Familien sprechen können, das hat die sicher sehr, sehr glücklich gemacht.”

Wir wechselten auf die andere Strassenseite, der Fussweg war vollkommen von einer Schneewehe versperrt.

“Denk Dir nur, wenn es die Sendung nicht gäbe, dann würden sie monatelang Nichts voneinander hören, wie traurig das wäre. Da können wir uns doch eigentlich mitfreuen, dass sie sich wenigstens sagen konnten, wie lieb sie sich haben.”

Ich hörte aufmerksam zu.

Sie fuhr fort: “Weisst Du, das ist noch gar noch nicht so lange her, da gabs gar kein Radio, da konnte man nur Briefe schreiben und das dauerte Monate lang, bis sie ankamen. Und dann nochmal Monate, bevor eine Antwort kam. Das ist doch prima, dass jetzt fast jeder ein Radio hat, nicht wahr?”

“Ja, das stimmt schon,” nickte ich, dann zeigte ich rüber zu Meiers Wohnung:

“Du schau mal Oma, bei Meiers ist bestimmt schon Bescherung, ich kann die Kerzen am Baum brennen sehen, da drüben!”

Wir hielten an, und schauten rüber zu Meierschen Wohnung. Die Kerzen vom Baum gaben ein urgemütliches, warmes Licht ab, es sah wunderschön aus durch den Schleier des  fallenden Schnees.

“Sie haben ja die kleine Evi,“ erklärte meine Oma, “die ist erst 5, da machen sie sicher frühe Bescherung, weil die dann auch früh ins Bett muss. Sieht richtig malerisch aus von hier draussen. Komm, lass uns weitergehen, wenn wir stehen bleiben, werden mir die Füße kalt.”

Wir stapften weiter. In der Ferne sahen wir ein Auto langsam in unsere Richtung kriechen, die Scheinwerfer waren schon halb verdeckt vom Schnee und gaben kaum Licht. Der Wagen kam näher, schlich langsam an uns vornei, man hörte den Motor kaum, der Schnee dämpfte jedes Geräusch.

 

“Du Omi, können wir nicht auch frühe Bescherung machen?” fragte ich.

“Ja-ha, Du Schlauberger, das hättste gerne, nicht wahr? Aber Du bist ja jetzt schon ein großer Junge, wirst 9 im nächsten Jahr, wir machen ja schon dieses Jahr mit Dir Bescherung für die Grossen. Du musst ja auch nicht früh ins Bett, an Heiligabend darfst Du so lang aufbleiben, wie du willst.”

Ich grummelte ein bischen, aber natürlich hatte die Oma recht. Und das lange Aufbleiben war es Wert, noch ein bisschen zu warten.

Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden und wir machten uns auf den Rückweg.

Die Spuren, die wir auf dem Hinweg im Schnee hinterlassen hatten, waren kaum noch zu sehen. Der Schnee fing an zu treiben und ich zog meine Mütze tief in die Stirn. Die Oma zog ihr Kopftuch runter bis fast zur Nase, so dass sie immer wieder den Kopf zurück legen musste, um den Weg zu prüfen.

“Omi…?” fragte ich.

“Ja, mein Kleiner?”

“Können wir den Weihnachtsbaum im nächsten Jahr nicht ein paar Tage früher aufstellen, Kreymeiers haben ihren schon seit einer Woche geschmückt und zünden jeden Abend die Kerzen an…” schlug ich vor.

“Das können die Kreymeiers natürlich gerne machen, aber bei uns, und auch bei Steens, bei Grafs und Müllers, da bleibt es Tradition, dass der Baum am Heiligabend aufgestellt und geschmückt wird.”

Ich leckte mir Schnee von den Handschuhen.

Sie fuhr fort: “Schau mal, der Weihnachtsbaum, das ist doch was ganz Besonderes. Das ist jedes Mal am Heiligabend das Schönste, wenn das Engelsglöckchen klingelt und wir zur Bescherung ins Weihnachstzimmer geladen werden.

Dann strahlt der Baum im Glanz der Kerzen, mit den Kugeln, dem Lametta, den Engeln und das siehst Du dann dieses Jahr zum ersten Mal.

Und jetzt stell Dir mal vor, wir hätten den Baum schon vor einer Woche aufgestellt, oder sogar schon am 2. Advent. Da ist er doch gar nix Neues mehr, dann bist Du schon dutzendmal dran vorbeigelaufen.

Da schaust Du dann überhaupt nicht mehr hin am Heiligabend. Und vergiss nicht – der Pappi kauft ja immer mal wieder ein paar neue Kugeln, oder letztes Jahr die schönen holzgeschnittenen Butzenmännlein, das war doch ein schöne Überraschung, als wir die zur Bescherung am Baum zum ersten Mal entdeckt haben.

Wenn der Baum heute frisch geschmückt ist und dann heut Abend zum ersten Mal die Kerzen leuchten, da kriegst Du den Tannenduft zum ersten Mal in die Nase…hach, das will ich nicht missen, auf keinen Fall,” sagte sie mit Nachdruck.

Ich verstand. Sie fuhr fort:

“Außerdem würde das auch gar nicht funktionieren, der Pappi hat ja kein Auto, also müssen wir sowieso auf Herrn Steens warten, wenn der seinen Baum abholt, und Steens schmücken ihren Baum auch erst am Heiligabend. Und so bleibt der Baum auch länger frisch, damit er nicht so heftig nadelt, er soll ja bis zum Dreikönigstag halten.”

So genau wollt ich es dann gar nicht mehr wissen, es war klar, dass der Baum immer am Heiligabend geschmückt werden würde, so lang die Oma noch bei uns war.

Inzwischen erspähte ich in der Dunkelheit noch weitere erleuchtete Weihnachtsbäume, die in den Nachbarhäusern anheimelnd ihr warmes Kerzenlicht verbreiteten.  Ich wollte gerne die Kerzen zählen, die ich erkennne konnte, aber die Oma zog mich energisch weiter, der Schnee hatte sich inzwischen zu einem richtigen Treiben entwickelt und flog uns direkt ins Gesicht.

Wir waren total bedeckt von einer Schicht Schneeflocken, ich fand es natürlich ganz toll, die Oma weniger, denn sie dachte sicher schon daran, wie viel Schnee ich reintragen würde, bevor sie mich zurückhalten und mir die weisse Pracht abklopfen konnte.

Auf der Haustürschwelle schlugen wir die Stiefel fest aneinander, um den Schnee so gut wie möglich abzuschütteln, dann strich die Oma mir den Schnee mit dem Handfeger vom Mantel, half mir ihn auszuziehen, zog ihren Mantel aus und schüttelte ihn energisch.

“So, jetzt aber ganz schnell rein, nicht rumtrödeln, sonst kommt die eisige Kälte mit uns rein!” befahl sie.

Sie schob mich vor sich her.

“Schnell, nach oben, hüpf unter die heisse Dusche, ich leg dir schon die gute Hose raus und ein anständiges Hemd.”

Anständige Hemden mochte ich gar nicht. Die waren meistens weiss, mit steifem Kragen, kratzig und man musste höllisch aufpassen, dass man nichts draufkleckerte, oder ein Loch riss. Aber an Heiligabend war es halt so üblich, da ging kein Weg dran vorbei.

Als ich die Treppe nach oben rannte, roch ich schon Pappis Rasierwasser – Hattric.  Das benutzte er seit Uwe Seeler, der berühmte Stürmer vom HSV, dafür Werbung gemacht hatte.

Mein Vater mochte englische Produkte, seine Rasierklingen waren Wilkinson, sein Rasierwasser Hattric, und seine Lieblings Konfitüre hieß ‘Dundee Three Fruits Marmalade’, die ich eklig fand, weil sie furchtbar bitter schmeckte.

Der Duft von Hattric bedeutete, dass er inzwischen mit dem Baumschmücken fertig war, sich rasiert und geduscht hatte.

Er war jetzt sicher schon dabei, seinen Anzug anzuziehen, den eleganten blauen Zweireiher. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Bescherung. Da musste ich mich jetzt tüchtig sputen!

Das war bestimmt meine kürzeste Dusche aller Zeiten, dann zog ich die schwarze Hose an und das anständige Hemd. Zum Glück war es ein dunkles Flanellhemd, es war schön angenehm weich, nicht so hart und kratzig wie die weissen Kragenhemden. Ich knöpfte es schnell zu, da kam auch schon die Oma herein in ihrem dunkelblauen Sonntagskleid mit der Perlenkette und der grossen Brosche.

Sie lachte und knöpfte mir das Hemd wieder auf und richtete es gerade. In meiner Eile hatte ich die falschen Löcher erwischt und das Hemd hing total schief an mir. Sie fuhr mir noch mit dem Kamm durch die Haare und dann setzten wir uns an den Tisch und warteten.

Endlich hörte ich leise Kirchenglocken – das war der Beginn der traditionellen Weihnachts Schallplatte, sie fing mit Glocken Geläut an, und hörte auch damit auf.

Dann erklang hell das Engelsglöckchen – eine kleine goldfarbene Messingglocke, die mein Vater im Bücherschrank stehen hatte und die nur ein einziges Mal im Jahr, am Heiligabend zur Bescherung, geläutet wurde.

Das Glöckchen war das Zeichen, dass der Weihnachtsmann da gewesen war und die Geschenke unter den Baum gelegt hatte. Nun war es Zeit, nach unten zu gehen – endlich war Bescherung!

Ich folgte der Oma die Treppe herunter und dann sah ich schon, dass die Wohnzimmertür offen war, mein Vater stand im Türrahmen, der Lichterglanz des Baumes erstrahlte im Hintergrund.

Wir umarmten uns und wünschten uns Frohe Weihnachten, dann bewunderten wir den geschmückten Baum.

Er war schwer mit Lametta beladen, das jedes Jahr sorgfältig geglättet und weggepackt wurde, so dass es an Heiligabend wie neu aussah, wenn es zum Schmücken wieder ausgepackt wurde. Die Kerzen brannten hell und ihr Licht spiegelte sich in den Kugeln, Engeln, kleinen Trompeten und Kristallen.

Einige der ganz alten, kleinen Kugeln waren vom herabtropfenden Wachs über die Jahre ganz stumpf und blind geworden, aber wir packten sie immer wieder ganz vorsichtig in den Pappkarton, und mein Vater hängte sie mit viel Sorgfalt und Liebe jedes Jahr wieder am Heiligabend auf.

Den Weihnachtsbaum ohne diese unscheinbaren Kugeln zu schmücken – das wäre undenkbar gewesen.

Sie hatten 1914 die Vertreibung aus Russland überstanden und dann am Ende des Zweiten Weltkrieges die Flucht über vereiste Strassen von Königsberg in den Westen, sie gehörten einfach zu unserer Familiengeschichte und zu Weihnachten.

Genauso wie die Krippe, die mein Vater langsam in den Jahren nach dem Krieg zu sammeln begonnen hatte.

Jedes Jahr kamen ein paar neue Figuren zu den Hirten, den Tieren, den Königen und den Kamelen. Dieses Jahr war ein weiteres Kamel und ein Hirte, der ein Schäfchen trug, dazu gekommen.

An den Adventssonntagen vor Weihnachten hatte ich meinem Vater geholfen, eine kleine Schutzhütte für die Hirten zu basteln, dazu ein paar Holzstöße mit Feuerholz, ein Lagerfeuer und einen Brunnen für die Kamele.

Die Oma hatte ein Beduinenzelt genäht für die Könige und ihre Diener.

Aus einem kleinen Reis Sack, den sie von ‘Brot für die Welt’ als Dankeschön für eine Spende bekommen hatte, nähte sie kleine Satteltaschen für das grosse Kamel.

Obwohl die Oma oft den Kopf schüttelte und sich beschwerte:

“Die Krippe, das ist die reinste Menagerie! Was kommt als Nächstes – Elefanten, Löwen und ein Nashorn? Vielleicht sogar ein Trockenhorn??” half sie immer mit, wenn es etwas zu Nähen gab.

Diese Sonntagnachmittage im Advent, wenn ich mit meinem Vater an der Krippe basteln durfte, waren die schönsten Stunden in den Wochen vor Weihnachten und eine wunderbare Tradition für uns.

Auf dem Tisch sah ich die Weihnachstpyramide mit 6 Kerzen, deren aufsteigende Wärme ein Rad antrieben. Auf der kleinen Plattform standen aus Holz geschnitzte Engel, die sich im Kreis drehten.

Zusätzlich hatte mein Vater im ganzen Wohnzimmer Kerzen verteilt, die das Zimmer in magisches, warmes Licht tauchten. Kerzen waren die einzige Lichtquelle, elektrisches Licht hätte die heimelige Atmosphäre nur gestört.

Der frische Tannenduft war wunderbar, gepaart mit dem Geruch der brennenden Wachskerzen – das war der Duft von Weihnachten!

Auf dem Tisch waren drei ‘Bunte Teller’ aufgebaut, farbige Pappteller, die mit Speisen und Süssigkeiten aufgefüllt waren, die es nur um die Weihnachtszeit gab.

Da waren Haselnüsse, Walnüsse, Zimtsterne, ein Marzipanbrot, Fondant-Sterne, Schokoladensterne, kleine Schokoladentäfelchen, frische Nürnberger Lebkuchen, Pfeffernüsse, Spekulatius mit Mandeln, dazu getrocknete Datteln und Scheiben vom Christstollen.

Dann gab es noch für jeden eine grosse Orange und dazu zwei Mandarinen. Die Südfrüchte waren etwas ganz Besonderes, denn die gab es nur zur Weihnachtszeit und sie waren höllisch teuer, deswegen gab es nur ein paar wenige abgezählte Früchte für uns.

Der Duft, den die Orange verströmte … wenn das feine Aroma des frischen Obstes mir heute in die Nase steigt, versetzt es mich auch jetzt noch in die Weihnachtszeit von anno dazumal… und wenn ich eine Mandarine schäle, dabei die Augen schliesse und mich nur auf den Geruch konzentriere – dann sitz ich sofort wieder als kleiner Bub unterm Weihnachstbaum, ganz genau so wie damals, als ich 8 Jahre alt war.

Auf dem Tisch hatte mein Vater sich ein Glas Sherry eingegossen.

Meine Oma hatte ein Glas Sekt, Henkel Trocken, von dem ich auch immer einen Fingerhut voll in einem Sektglas bekam, dann stiessen wir an und wünschten uns nochmal Frohe Weihnachten.

Zum Glück hatten wir keine Familientradition an Heiligabend, die verlangte, dass ich Gedichte lernen und Aufsagen musste, oder endlos Weihnachtlieder gesungen wurden wie bei anderen Familien bevor es ans Auspacken ging.  Bei Kreymeiers wurde aus der Bibel gelesen mit verteilten Rollen, davor graute es meinem Freund Robbi immer, der im Lesen nicht besonders gut war.

Und dann hatte das lange Warten endlich ein Ende und es ging an das Geschenke auspacken!

Mein Vater hatte die Geschenke für die Oma und sich selbst auf dem Tisch arrangiert, während meine Geschenke unter dem Baum ausgebreitet waren. Ich setzte mich hin und begann das Geschenkpapier vorsichtig am Tesafilm aufzumachen. Die Oma ermahnte uns nochmal, das Papier behutsam zu behandeln, so dass wir es glätten und im nächsten Jahr wieder verwenden konnten.

Das erste Geschenk, das ich öffnete war ein Buch – Erich Kästners “Das Fliegende Klassenzimmer”, darüber  freute ich mich sehr, weil ich schon “Das Doppelte Lottchen “ und “Pünktchen und Anton” hatte.

Ich liebte Erich Kästners Bücher.

“Das Fliegende Klassenzimmer” sollte in den kommenden Jahren eines meiner Lieblingsbücher werden, das ich immer mal wieder vor Weihnachten aus dem Regal nahm und las. Für mich ist es die perfekte Weihnachtsgeschichte.

Dann waren da ein paar Modellautos von Corgi, die ich mir gewünscht hatte, ein neuer Jahresband von “Durch Die Weite Welt”, dazu ein neues Buch aus der Reihe  “Das Neue Universum” von Tante Ulla und Onkel Romi, der mir noch zusätzlich ein tolles Taschenmesser dazu gelegt hatte.

Ich dankte Pappi und Omi für die schönen Geschenke, knabberte an meinem Marzipanbrot, griff mir ‘Das Fliegende Klassenzimmer’ und wollte mit dem ersten Kapitel anfangen.

Mein Vater setzte sich zu mir auf den Boden und fragte mich:

“Hast Du denn jetzt schon alle Geschenke ausgepackt? “

Ich nickte eifrig.

“Ich glaube, da ist noch was, hast du auch wirklich genau geschaut? Was ist denn das da hinter dem Weihnachtsbaum?”

Ich krabbelte schnell hinter den Baum, da lag ein grosser Karton, eingepackt in dunkles Packpapier. Es war ganz schön schwer und ich hörte etwas darin klappern, als ich ihn nach vorne zog. Mein Vater gab mir seinen Brieföffner und ich schlitze das Packpapier auf.

Hervor kam ein hellblauer Kasten, mit dem Bild einer grossen roten Lokomtive, die drei Waggons zog.

Darüber das Wort “Märklin”

“Eine Eisenbahn!” schrie ich, und sprang vor Freude im Zimmer herum, dass der Baum wackelte und die Kugeln von der Erschütterung zitterten.

“Eine Märklin Bahn, toll, prima, eine Eisenbahn!” schrie ich, meine Stimme überschlug sich. Ich schmiss mich neben meinen Vater auf den Boden, und zusammen packten wir den Rest des Kartons aus.

Da war die rote Lok mit den drei Waggons, die auf dem Karton abgebildet war, dazu Gleise, Geraden und Kurven und ein Trafo für den Stromanschluss.

Mein Vater half mir, die Gleise zusammenzustecken, man musste da sehr genau aufpassen, dass die Schienen sowohl an den Verbindungsstückchen als auch mit der kleinen Strom-Zunge in der Mitte passten, sonst konnte es leicht passieren, dass der Zug entgleiste.

Mir ging das alles nicht schnell genug und ich hampelte herum, sehnsüchtig darauf wartend, dass die Eisenbahn endlich fahrbereit war.

Als der Trafo angeschlossen war, stellte mein Vater zuerst nur die Lokomotive auf das Gleis, um auszuprobieren, ob wir auch alles richtig gemacht hatten.

Er drehte vorsichtig am Schalter und – Hurra! – die Lok begann sich langsam in Bewegug zu setzen. Ich schrie vor Aufregung! Mein Vater erhöhte das Tempo, die Lok nahm Fahrt auf und sauste ein ums andere Mal auf dem Gleisoval  herum. Dann bremste er wieder ab und die Lok kam zum Stehen.

“So, jetzt bist Du dran,” sagte er und machte mir Platz vor dem Trafo.

“Erst ein kleines bisschen anfahren, mit Gefühl, dann langsam den Regler weiter aufdrehen…” empfahl er, aber einem zappeligen Jungen von 8 Jahren zu sagen, er solle seine neue elektrische Eisenbahn langsam ‘mit Gefühl’ fahren, das war ein zweckloses Unterfangen!

Ich war natürlich viel zu ungeduldig und drehte den Regler schnell bis zum Anschlag. Die Lokomotive machte einen Satz nach vorne, raste in die Kurve und – entgleiste!

“Au weia –“, flüsterte ich.

“Siehst Du, das passiert, wenn man zu schell in die Kurve saust, beim nächsten Mal etwas langsamer,” sagte er und stellte die Lokomotive wieder aufs Gleis.

Nach einer Weile bekam ich es ins Gefühl, und dann stellten wir die drei Personenwagen und zwei Güterwaggons auf die Gleise. Mein Vater manövrierte die Lok langsam an die Waggons heran, und die kleinen Kupplungen klickten, als die Waggons sich anhängten.

Als er dann losfuhr, zog die Lokomotive den ganzen Zug. Ich klatschte begeistert in die Hände. Jeder Waggon hatte eine Innenbeleuchtung, so dass der ganze Zug malerisch im Halbdunkel unter dem Baum seine Kreise zog.

Mein Vater lies mich mit dem Zug spielen, während er einen weiteren Kasten öffnete und kleine Gebäude aus Plastik herausholte, da waren Wohnhäuser, eine Kirche, ein Bauernhof mit Tieren und ein Miniatur Bahnhof mit Figuren, die auf die Platform beim Bahnhof gehörten. Er stellte die Gebäude innerhalb des Ovals auf und verband zwei kleine Kabel mit dem Trafo und ein winziges gelbes Licht erleuchtete das Innere des Bahnhofs.

Ich war masslos glücklich.

Mein sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen, eine Modelleisenbahn, noch dazu eine Märklin, zu Weihnachten, ein besseres, ein schöneres Geschenk konnte es gar nicht für mich geben. Ich war vollständig für die Aussenwelt verloren und spielte verzückt mit meiner neuen Eisenbahn, belud und entlud die Güterwaggons, liess den Zug vor und zurück fahren, stellte das kleine Dorf um und spielte mit den Figuren auf der Bahnhofsplatform.

Ich hatte gar nicht gemerkt wie die Zeit verging, die Oma rief uns zum Abendessen.

Wie immer gab es auch zu diesem Heiligabend die traditionellen Wiener Würschen mit Kartoffelsalat, Weissbrot, Butter und Senf.

Schmalz würde es erst morgen geben, wenn die Oma das ausgelassene Fett von der Weihnachtsgans zu Sülze und Griebenschmalz verarbeitete.

Zum Nachtisch gab es noch Quarkspeise, und obwohl das mein Lieblingsnachtisch war, konnte ich sie kaum aufessen, so vollgefressen war ich. Denn ich hatte ja natürlich schon vorher ausgiebig am Bunten Teller genascht!

Dann setzte mein Vater sich noch ein bischen zu mir und wir spielten zusammen eine Weile mit der Eisenbahn.

“Das ist das aller, aller, allerbeste und schönste und tollste Weihnachtsgeschenk das ich je bekommen habe,” strahlte ich ihn an.

Mein Vater strich mir übers Haar, nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich.

“Da bin ich ja froh, dass wir so gut Deinen Geschmack getroffen haben, als wir Dir diesen Herzenswunsch erfüllt haben, mein Kleiner,” sagte er und schmunzelte.

Ich schmiegte mich fest an ihn.

“Das ist fast so wie in Deinem Traum letzte Nacht, oder?”

“Ganz, ganz genau so wie ich’s mir gewünscht habe Pappi, ganz genau so…das ist das schönste Weihnachten, das aller, allerbeste Weihnachten” flüsterte ich.

Mein Vater drückte mich nochmal ganz fest an sich, dann stand er auf.

Er putzte sich die Brille, die plötzlich ganz beschlagen war. Er räusperte sich, dann sagte er:

“So, dann will ich mir jetzt mal einen kleinen Sherry gönnen, der ist jetzt wohlverdient….” und setzte sich in den grossen Ohrensessel.

Ich drehte mich wieder meiner Eisenbahn zu und griff nach dem Schalter vom Trafo.

Da klingelte es.

Ich lief zum Eingang und machte die Tür auf.

Draussen stand Familie Steens, fest vermummt in Mänteln, Mützen, Schals und Handschuhen.

“Wir wollen euch schnell ein Frohes Fest wünschen, wir gehen jetzt zur Kirche, zur Abendmesse,” verkündete Herr Steens. Mein Vater und die Oma hörten seine Stimme, und kamen aus dem Wohnzimmer.

Wir schüttelten uns alle die Hände, wünschten uns rundum  Fröhliche Weihnachten, Gesegnete Weihnachten, oder Frohes Fest.

Uta zog mich zur Seite.

“Na, hast Du Deine Eisenbahn bekommen?” fragte sie mich neugierig.

Ich nickte eifrig.

“Ja, eine ganz tolle, mit einer roten Lok, mit extra Waggons und Häuschen, Bahnhof und Tieren…” sprudelte es aus mir heraus.

“Und Du – hast Du das neue Puppenhaus gekriegt?” fragte ich zurück.

Uta strahlte, ihre Wangen glühten. “Ja, es ist sooo gross, stell Dir mal vor, es hat drei Stockwerke, und alles verschiedene Zimmer und richtige Lämpchen und sogar ein Badezimmer! Du musst morgen unbedingt rüberkommen und wir spielen, Vater, Mutter, Kind!” bestimmte sie.

“Und hinterher kommst Du rüber zu uns und ich zeig Dir meine Eisenbahn!”

“Mach ich, Sven will auch kommen – und Heike. Aber Antje bleibt zu Hause, Eisenbahn interessiert sie nicht, sie will lieber lesen. Na ja.” Sie zuckte mit den Achseln.

Uta umarmte mich zum Abschied und drückte mir einen Kuss auf die Backe. Ich wischte mir schnell mit dem Arm über das Gesicht – hoffentlich hatte es keiner gesehen, sowas Peinliches!

Sven grinste mich an und tippte sich an die Stirn. Das würde sicher ein paar Hänseleien geben morgen Nachmittag.

Aber irgendwie war mir das jetzt auch egal.

Ich war einfach zu glücklich über meine Eisenbahn.

Dann verabschiedeten sich alle voneinder und Steens stapften in der Dunkelheit davon in Richtung Kirche.  Ich konnte in der Ferne die Glocken läuten hören und auf der Strasse sah ich andere Familien, die sich auch auf den Weg zur Kirche machten.

Wir schlossen die Tür und gingen zurück ins Wohnzimmer.

Mein Vater setzte sich nochmal zu mir, und wir spielten noch eine Weile zusammen mit der Eisenbahn.

Während sie ihre Kreise zog, sagte er:

“Ist schön, dass Du Dich so an der Eisenbahn erfreust.

Weisst Du, als ich ein kleiner Junge war, genau so wie Du jetzt, da habe ich mir selbst auch immer eine Eisenbahn gewünscht.”

“So wie meine Märklin, Pappi?”

“Nein, die Eisenbahn, von der ich träumte, das war nicht so eine tolle Elektrische wie Deine, die gabs damals noch nicht. Sondern eine ganz Einfache, zum Aufziehen. Aber das war halt damals nicht möglich, wir hatten ja nichts…und dann kam diese furchtbare Zeit…”

Er machte eine längere Pause, sein Blick schweifte in die Ferne.

Ich wartete darauf, dass er weiter sprach.

“Heut’ Abend, mit der Eisenbahn für Dich, da habe ich mir auch ein bisschen selber das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht.”

Er nahm mich in den Arm und drückte mich ganz fest.

Dann holte er tief Atem, seufzte, und flüsterte:

“Fröhliche Weihnachten, mein lieber Junge.”

“Fröhliche Weihnachten, Pappi.”

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Danke fürs Lesen – wenn Du es ganz bis an das Ende der Geschichte geschafft hast, dann beglückwünsche ich Dich, denn in unserer heutigen schnelllebigen Zeit ist das schon was ganz Aussergewöhnliches und Besonderes, wenn Du Dir dazu die Zeit genommen hast.

Ich hoffe sehr, dass Dir meine Geschichte über unseren Heiligabend von 1967, als ich 8 Jahre alt war, gefallen hat und Dir ein paar besinnliche Momente bereitet hat.

Die Erzählung “Unser Heiligabend” ist der Beginn eines Büchleins, dass ich im nächsten Jahr zu Weihnachten herausgeben möchte.

Es wird eine Sammlung über die Traditionen und Bräuche, die sich um Weihnachten und die Adventszeit ranken, wo sie herkommen und was man noch so von ihnen weiss.

Ganz besonders würde ich mich darüber freuen, wenn “Unser Heiligabend”  Dich dazu anregt, auch ein wenig über Deine Weihnachtszeit als Kind nachzudenken und mir vielleicht ein paar Zeilen darüber zu schicken.

Zum Beispiel – wie ihr damals bei euch zu Haus gefeiert habt, oder wie ihr heute noch feiert. Da sind sicher ähnliche, aber bestimmt auch ganz andere Traditionen, die ihr in in eurer Familie habt, die es Wert sind, erwähnt zu werden.

Falls Du im Ausland wohnst, wäre es bestimmt sehr interessant, zu erzählen, wie Du Dir das Weihnachstfest einrichtest, was Du Dir von den alten Traditionen beibehalten hast und was anders bei Dir im Ausland zu Weihnachten ist.

Ich freue mich schon darauf, die Gechichten zu sammeln, und es wäre wunderbar, wenn Du mir ein paar Zeilen über Dein Weihnachten schicken würdest. Mit Deiner Erlaubnis füge ich das dann mit in mein Buch ein, natürlich mit Deinem Namen, wenn Dir das lieb ist.

Du kannst mir gerne Deine Erinnerungen und Gedanken zum Thema per email an [email protected] schicken.   Egal, ob es ein paar kurze Zeilen oder etwas ausführlichere Gedanken sind, ich würde mich riesig darüber freuen, von Dir zu hören.

In diesem Sinne – ich wünsche ein Frohes Weihnachtsfest!

 

Wenn es Dir lieber ist, die Geschichte anzuhören anstatt zu Lesen, kannst Du das hier: