Der Weihnachtsbaum

Der Weihnachtsbaum

Es ist eine Kälte, daß Gott erbarm!

Klagte die alte Linde,

Bog sich knarrend im Winde

Und klopfte leise mit knorrigem Arm

Im Flockentreiben

An die Fensterscheiben.

Es ist eine Kälte! Daß Gott erbarm!

Drinnen im Zimmer war’s warm.

Da tanzte der Feuerschein so nett

Auf dem weißen Kachelofen Ballett.

Zwei Bratäpfel in der Röhre belauschten,

Wie die glühenden Kohlen

Behaglich verstohlen

Kobold- und Geistergeschichten tauschten.

Dicht am Fenster im kleinen Raum

Da stand, behangen mit süßem Konfekt,

Vergoldeten Nüssen und mit Lichtern besteckt,

Der Weihnachtsbaum.

Und sie brannten alle, die vielen Lichter,

Aber noch heller strahlten am Tisch

(Es läßt sich wohl denken

Bei den vielen Geschenken)

Drei blühende, glühende Kindergesichter. –

Das war ein Geflimmer

Im Kerzenschimmer!

Es lag ein so lieblicher Duft in der Luft

Nach Nadelwald, Äpfeln und heißem Wachs.

Tatti, der dicke Dachs,

Schlief auf dem Sofa und stohnte behaglich.

Er träumte lebhaft, wovon, war fraglich,

Aber ganz sicher war es indessen,

Er hatte sich schon (die Uhr war erst zehn)

Doch man mußte ’s gestehn,

Es war ja zu sehn,

Er hatte sich furchtbar überfressen. –

Im Schaukelstuhl lehnte der Herzenspapa

Auf dem nagelneuen Kissen und sah

Über ein Buch hinweg auf die liebe Mama,

Auf die Kinderfreude und auf den Baum.

Schade, nur schade,

Er bemerkte es kaum,

Wie schnurgerade

Die Bleisoldaten auf dem Baukasten standen

Und wie schnell die Pfefferkuchen verschwanden.

– Und die liebste Mama? – Sie saß am Klavier.

Es war so schön, was sie spielte und sang,

Ein Weihnachtslied, das zu Herzen drang.

Lautlos horchten die andern Vier.

Der Kuckuck trat vor aus der Schwarzwälderuhr,

Als ob auch ihm die Weise gefiel. –

Leise, ergreifend verhallte das Spiel.

Das Eis an den Fensterscheiben taute,

Und der Tannenbaum schaute

Durchs Fenster die Linde

Da draußen, kahl und beschneit

Mit ihrer geborstenen Rinde.

Da dachte er an verflossene Zeit

Und an eine andere Linde,

Die am Waldesrand einst neben ihm stand,

Sie hatten in guten und schlechten Tagen

Einander immer so lieb gehabt.

Dann wurde die Tanne abgeschlagen,

Zusammengebunden und fortgetragen.

Die Linde, die Freundin, die ließ man stehn.

Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!

So hatte sie damals gewinkt noch zuletzt. –

Ja daran dachte der Weihnachtsbaum jetzt,

Und keiner sah es, wie traurig dann

Ein Tropfchen Harz, eine stille Träne,

Aus seinem Stamme zu Boden rann.

Autor: Joachim Ringelnatz (1883 – 1943)