Die alten Christbaumkugeln meiner Omi
Wir hatten unser Weihnachtsessen beendet, als ich meine Großmutter fragte:
„Omi, warum lassen wir diese hässlichen alten Kugeln immer noch am Weihnachtsbaum hängen?“
„Welche findest Du denn hässlich, mein Kleiner?“
Obwohl ich bald 11 Jahre alt wurde, nannte mich meine Großmutter immer noch ihren „Kleinen“.
„Hier vorne, diese vier sehen alt und langweilig aus, und sie sind über und über mit Wachstropfen beckleckert. Können wir diese hässlichen alten nicht einfach wegwerfen und ein paar schöne neue glitzernde Kugeln bekommen?“
„Ich glaube nicht, dass deine Großmutter dir erlauben wird, diese 4 Kugeln wegzuwerfen Michael, sie sind ihr sehr, sehr wertvoll und ans Herz gewachsen“, bemerkte mein Vater, seine traditionelle Weihnachtszigarre in der einen Hand und ein Glas Sherry in der anderen balancierend . Er lehnte sich in seinem bequemen Sessel zurück.
Ich stöhnte genervt. „Aber warum, was ist so besonders an denen, Omi?“ fragte ich anklagend.
„Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob das eine Geschichte für den Heiligabend ist, und sowieso nicht jetzt, vielleicht in ein paar Jahren …“, warnte mein Vater.
„Ich bin schon fast 11, ich bin alt genug, ich weiß, was los ist, ich bin doch kein Kind mehr!“ begehrte ich auf, meine Neugier war geweckt.
Meine Großmutter nickte ernst mit dem Kopf. „Er ist wirklich alt genug. Wenn nicht jetzt, wann denn sonst?“
Sie bat meinem Vater:
„Karl Heinz, sei doch so lieb, giess mir auch ein Glas Sherry ein, im schönen Kristall Glas.“
Sie wartete, bis mein Vater ihr ein Glas Sherry in eins der besonders feinen Kristallgläser eingeschenkt hatte, so wie es bei uns an Weihnachten üblich war.
Sie beugte sich vor, holte tief Luft und fing an zu erzählen:
„Wie Du ja weißt, ist mein Vater vor vielen, vielen Jahrzehnten von Deutschland nach Russland gegangen, um Arbeit zu suchen. Wir hatten eine wundervolle Zeit auf dem Schloss des Grafen Diaselsky, und ich bin mit seinen Kindern aufgewachsen und durfte oft mit ihnen spielen. Es war eine magische, ganz märchenhafte Zeit für mich. An einem der Weihnachtsfeste hat der Graf unserer Familie 6 dieser Kugeln als Geschenk für unseren Baum geschenkt – und sie sind seitdem seit vielen Jahrzehnten in unserer Familie. Damals glänzten und glitzerten sie genauso wie die Neuen, die wir jetzt haben.
Doch diese schöne Zeit ging zu Ende, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Da war ich 14. Als Ostpreußen aus Deutschland wurden wir nun als Unerwünschte behandelt, wir mussten unsere Sachen packen und Russland schnellstens verlassen. Natürlich haben wir auch die Kugeln sorgfältig zum Mitnehmen verpackt, denn sie waren ein besonderes Geschenk des Grafen. Ich war ungaublich traurig, als wir uns verabschieden mußten, und weinte den ganzen Weg zum Bahnhof. Später haben wir dann erfahren, daß die ganze Familie Diaselsky von den Bolschewiken umgebracht wurde – genauso wie die Zarenfamilie“
Omi nahm einen Schluck Sherry und wischte sich mit dem Seidentaschentuch, das sie immer im rechten Ärmel trug, die Augen.
„Am Bahnhof wurden wir in Abteile geführt, sie wurden von außen verschlossen und ein bewaffneter Soldat stand draußen auf dem Gang Wache. Wenn wir auf die Toilette wollten, mussten wir ans Fenster klopfen und ihn um Erlaubnis fragen.
Der Wächter war nur ein junger Bursche vom Lande, nicht älter als 16, sehr höflich und zuvorkommend. Während wir in unserem Abteil einen Ofen hatten, um die Mahlzeiten für die lange Reise aufzuwärmen und uns warm zu halten, stand er zitternd vor Kälte im Flur. Seine Uniform war dünn und abgewetzt und er hatte nichts zu essen. Meine Mutter hatte Mitleid mit ihm und fragte, ob er hereinkommen, sich aufwärmen und unser Essen mit uns teilen wolle. Er sah sich verstohlen um, ob irgendwelche Offiziere in der Nähe waren, dann schlich er sich erfreut in unser warmes und gemütliches Abteil. Er war durchgefroren und sagte uns, dass er seit 2 Tagen nichts mehr gegessen hatte. Mutter gab ihm eine heiße Suppe und ein paar belegte Brote, die sie für uns zubereitet hatte. Wir teilten gerne, denn wir hatten ja mehr als genug, er hatte nichts.
Er schlang das Essen hinunter, mein Vater gab ihm noch einen gehörigen Schluck aus seiner Flasche Wodka, und nachdem er meinen Eltern ausgiebig für unsere Freundlichkeit gedankt hatte, wandte er sich an meine Mutter:
‚ мамучка – Mamutschka – kann ich dir mein Gewehr zur Aufbewahrung geben, während ich schnell auf die Toilette geh? Ich kann mich auf der Toilette kaum umdrehen, da wird die Waffe mir nur im Weg sein.‘
Er überreichte meiner Mutter die geladene Waffe, entschuldigte sich und schlich sich hinaus. Meine Mutter und mein Vater diskutierten kurz darüber, ob sie die Patronen entfernen und die Waffe unbrauchbar machen sollten, falls ihm befohlen wurde, uns zu bedrohen oder auf uns zu schießen, aber meine Mutter beendete die Debatte, indem sie entschied:
„Er wird von seinen Offizieren erschossen, wenn sie herausfinden, dass die Kugeln fehlen. Er ist noch ein Kind, laß uns nicht so gemein zu unserem kleinen Wachsoldaten sein!‘
Auf dieser Reise ist dann weitehin auch nichts Gefährliches passiert und so sind unsere geliebten Weihnachtskugeln mit uns nach Königsberg zurückgekehrt, wo wir schwierige Jahre hatten, aber auch ein paar schöne Weihnachten genossen haben. Meine Eltern sind schließlich verstorben, dann habe ich geheiratet, erst wurde deine Tante Ulla und zwei Jahre später wurde dann dein Papa geboren, das Leben trudelte nur so vor sich dahin. Aber dann kamen der Verrückte und seine Lumpen-Kumpane an die Macht und bald darauf gab es wieder Krieg, größer und bösartiger als alles, was die Menschen zuvor durchlitten hatten. Der Krieg kam näher, es wurde immer schlimmer und gefährlicher für uns, da war es dann wieder an der Zeit, nur das Nötigste einzupacken und zu fliehen.“
„Und wieder einmal war es Winter, mein Kleiner. Anfang 1945 herrschte ein kalter, bitterer, erbarmungsloser Frost mit minus 25 Grad. Die Nazis verloren den Krieg an allen Fronten, und wir waren im Osten, dem schlimmsten Gebiet, an dem man sein kann, wenn man verliert. Jeden Tag kamen Lastwagen mit verwundeten Soldaten durch Königsberg, und nachts warfen die alliierten Bomber ihre tödliche Fracht auf eine Stadt voller Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen und Kinder – unerbittlich, ohne Mitleid, Nacht für Nacht.
Alle versuchten zu fliehen, aber ich hatte bis zur letzten Minute durchgehalten, weil es deiner Tante Ulla ganz furchtbar schlecht ging und sie im Krankenhaus lag.
Ich hatte gehofft, sie würde wieder zu Kräften kommen und wenigstens wieder aufstehen, vielleicht sogar ein paar Schritte gehen können. Jeden Tag lief ich ins Krankenhaus, um zu schauen ob es ihr besser ginge, aber es gab keine Medikamente mehr und nicht genug Nahrung, um ihr zu helfen, wieder etwas zu Kräften zu bekommen.
Ich versuchte täglich, für sie und mich eine Passage nach Westen zu arrangieren. Inzwischen waren alle Lastwagen und Autos weg, die Armee nahm keine Flüchtlinge mit und ich wurde richtig verzweifelt. Da bin ich auf Anton gestoßen.
Er sprach mich an, als ich in den Kantine ging, um Ulla eine dünne Suppe aufzuwärmen. Anton war ein kleiner, stämmiger, grober und ungehobelter Kerl mit schlechter Laune und einem unflätigen Mund. Anton war der Einberufung zur Wehrmacht entgangen, weil er als Kind einen Skiunfall hatte und seitdem hinkte.
Er war einer der letzten verbliebenen Krankenwagenfahrer im Spittal und hatte einen Bus gestohlen, den er hinten in der Garage versteckt hatte.
Anton sammelte auf dem Schwarzmarkt Proviant, tauschte und handelte, um Brennholz für einen Holzofen, den er in den Bus eingebaut hatte, und kostbaren Diesel für die lange und beschwerliche Reise nach Westen zu besorgen. Er hatte noch ein paar Plätze frei und würde uns für den richtigen Preis mitnehmen. Diesel war besonders schwer zu bekommen. Nur deshalb hatte er mich angesprochen. Er hatte herausgefunden, dass ich als Dolmetscherin für die Wehrmacht arbeitete. Er hoffte, ich könnte ihn mit jemand bei der Wehrmacht in Verbindung bringen, der bereit wäre, ihm heimlich Diesel zu verkaufen oder zu tauschen.
Ich gab ihm die Hälfte des Schmucks meiner Mutter und arrangierte für ihn den begehrten Termin im Fahrerlager so daß er eine Ladung Sprit organisieren konnte. Das sicherte uns zwei Sitzplätze im Bus. Die andere Hälfte der Zahlung würde er nur bekommen, wenn wir im Bus saßen, ich traute ihm nicht über den Weg.
Als wir in den Bus einstiegen, schlug mir der Gestank von Diesel entgegen. Unter jede Sitzreihe waren Kanister mit Diesel geladen worden, es müssen mindestens zwei Dutzend gewesen sein.
Wir durften einen Koffer mit persönlichen Gegenständen und so viele Decken mitnehmen, wie wir tragen konnten. Eines der Dinge, von denen ich mich einfach nicht trennen konnte, war die kleine Schachtel mit den kostbaren Christbaumkugeln, sie würden wieder einmal mit uns auf eine gefährliche Reise gehen. Du denkst vielleicht, dass es dumm von mir war, so etwas mitzunehmen, wo doch praktische Dinge wie extra Paar Socken oder Silberbesteck zum Tauschen sinnvoller gewesen wären. Ich konnte mich jedoch nicht dazu durchringen, die kostbaren Christbaum Kugeln zurückzulassen.
Ich traf noch eine weitere Vereinbarung mit ihm als ich sah, wie er eine Waffe unter dem Fahrersitz versteckte.
Ich fragte ihn, wozu das denn gut sei, und Anton grinste und zeigte dabei zwei Lücken in seinen Vorderzähnen, die ihn noch listiger und verschlagener aussehen ließen.
Er flüsterte, damit Ulla uns nicht hören konnte:
„Unsere Chancen, durchzukommen, sind gering, sehr gering. Niemand weiß, wo die Front ist, sie ändert sich stündlich, und unsere Truppen sind überall auf dem Rückzug. Einige russische Spähtrupps wurden bereits am Rande von Königsberg gesichtet. Wir wissen nicht, ob irgendwelche Brücken passierbar bleiben oder ob dieser alte Bus es bis zum Ende schaffen wird. Eines ist sicher – ich lasse mich von den Russkies nicht lebend erwischen …“
Ich hielt zwei Finger hoch und gab Anton einen weiteren Ring und ein Armband, Erbstücke von meiner Großtante. „Im schlimmsten Fall will ich zwei Kugeln – zuerst meine Tochter, dann mich. Schwöre es mir beim Grab deiner Mutter!‘
Antons Grinsen wurde breiter, er nahm die Juwelen und schüttelte mir die Hand. ‚Ich schwör’s – beim Grab meiner Mutter!‘
Im Bus war es etwas wärmer, die Außentemperatur war mit Einbruch der Nacht wieder unter minus 20 Grad gefallen. Ich machte es Ulla so bequem wie möglich, setzte mich neben sie in die letzte Reihe und hüllte uns so gut es ging in Decken ein.
Bald darauf kamen nach und nach die anderen Passagiere an; ungefähr ein Dutzend Frauen und eine Handvoll Kinder. Jede der Frauen überreichte Anton verstohlen Umschläge mit Geld oder Schmuck und andere Pretitiosen. Falls wir durchkommen würden konnte er sich tüchtig an dieser Fahrt gesund stossen.
Der Motor lief ununterbrochen und Anton ließ den Ofen anheizen. Neben dem Ofen lag ein großer Stapel Brennholz aus zerschmetterten Möbeln, dafür hatte er mehrere Sitzreihen entfernt.
„Lasst das Feuer im Ofen niemals ausgehen. Es ist die einzige Wärme, die ihr hinten im Bus bekommt, und wir brauchen das Feuer im Herd zum Überleben und zum Essen kochen. Hängt alle Decken, die ihr entbehren könnt, an den Seilen auf, die an den Fenstern aufgespannt sind. Wir müssen die Fenster verdunkeln, damit wir nachts nicht so leicht gesehen werden können. Mit dem Rest mummelt euch ein so gut ihr könnt.‘
Er deutete über den Ofen hinweg auf die andere Seite des Busses. Auf dem Boden standen zwei Eimer.
»Da sind zwei Eimer für euch da, falls ihr eure Notdurft verrichten müßt. Wir machen keine langen Toilettenpausen. Wir halten nur, um Sprit aufzufüllen und der Motor muss die ganze Zeit laufen, denn ich weiß nicht ob dieser alte Bus wieder anspringt falls wir den Motor abstellen. Die Tankanzeige ist kaputt, also müssen wir von Zeit zu Zeit nachsehen, ob wir genügend Sprit im Tank haben.
Die Russen sind etwa 3 Kilometer außerhalb von Königsberg, wobei Vorauseinheiten auch schon viel näher gemeldet wurden. Ich hatte geplant, morgen früh loszufahren, aber da die Russen so nah sind, brechen wir jetzt auf.“
„Noch eins – wer mir Ärger macht, wer jammert, schreit, streitet – die schmeiss ich aus dem Bus. Fragen?‘
Niemand sagte etwas, wir waren alle zu erschöpft und verängstigt und waren froh, wenigstens in einem Bus Richtung Westen zu sitzen.
Anton knallte die Tür zu und wir machten uns langsam auf den Weg durch die Außenbezirke von Königsberg.
Die Bombenangriffe hatten wieder begonnen, die Explosionen waren ohrenbetäubend und bald stand die Stadt in Flammen. Als wir die letzten Reste einer einstmals schönen und stolzen Stadt hinter uns ließen, hörten wir über uns Wellen über Wellen von Flugzeugen, die ihre feurige Fracht auf die verbliebenen Frauen und Kinder abwarfen, denen es nicht gelungen war, zu entkommen.
Nach einer halben Stunde Fahrt brachte Anton den Bus zum Stehen und bedeutete mir, nach vorne zu kommen.
„Du, Magda, komm mit.“ Alle starrten mich an, als ich ihm nach draußen folgte. Hinten am Bus schraubte er den Tankdeckel ab und forderte mich auf, in den Trichter zu schauen.
„Du bist die Größte. Ich bin zu klein, um den Trichter zu überprüfen . Die Tankanzeige ist kaput, also müssen wir hin und wieder überprüfen, wie viel Kraftstoff noch vorhanden ist. Wenn du dich auf die Zehenspitzen stellst und nach unten spähst, kannst du sehen, wie viel übrig ist.“
„Gib mir die Taschenlampe“, sagte ich zu ihm.
Er lachte. »Lampen gibt’s schon lang nicht mehr! Hier sind ein paar Streichhölzer, zünde eins an, halte es rein, und wenn du immer noch nichts sehen kannst, dann lass es fallen. Bevor es ausgeht, kannst du sehen, was noch im Tank ist.“
„Nee, ganz bestimmt nicht, du spinnst doch, wenn du denkst, ich stecke ein Streichholz in den Tank – dann explodieren wir!“ protestierte ich.
Anton verspottete mich:
„Nein, garantiert nicht, haben sie dir nichts in der Schule beigebracht? Benzin explodiert, Kerosin explodiert, aber Diesel ist sehr schwer zu entzünden, unmöglich, dass du es mit einem Streichholz zum Brennen, geschweige Explodieren bringst. Also hör auf, mich zu ärgern; zünd gefälligst das Streichholz an und sag mir, was du siehst!‘
Meine Knie zitterten, als ich auf meinen Zehen balancierte in den Trichter hinunterblickte, während das brennende Streichholz nach unten schwebte. Kurz bevor es auf den Diesel traf und ausging – genau wie Anton vorausgesagt hatte – konnte ich erkennen, dass der Tank fast zu drei Viertel voll zu sein schien. Anton war zufrieden. Wir schwiegen betroffen, als wir auf das brennende Königsberg zurückblickten. Der Nachthimmel glühte rot von dem Scheiterhaufen, der die bombardierte Stadt verschlang.
„Die armen, armen Menschen, all die Kinder …“ flüsterte ich.
Anton räusperte sich.
„Ja, klar, los jetzt, beeilen wir uns“, befahl er mit schroffer Stimme, aber ich konnte sehen, dass auch er vom Anblick der brennenden Stadt erschüttert war.
Wir stiegen ein, knallten die Tür zu und ich eilte nach hinten, um mich wieder neben Ulla zu setzen. Die wenigen Minuten draußen hatten mich schon bis auf die Knochen durchgefroren, die Luft war beißend kalt und der heulende Wind fuhr durch jedes Kleidungsstück.
Anton erwies sich als sehr geschickter Fahrer.
Er schlängelte sich seinen Weg zwischen den Flüchtlingen und ihren Habseligkeiten auf beladenen Pferdekarren. Wir passierten Schlitten mit Kindern darauf, die von ihren Müttern gezogen wurden, Menschen, die mit Koffern, Kisten, Rucksäcken die Straße entlang eilten, einige sogar mit Tragen, auf denen Kinder festgebunden waren. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie es schafften, sich in dieser klirrenden Kälte zu bewegen, während der Wind gegen sie stürmte und ihnen den Schnee ins Gesicht trieb. Die Angst um ihr Leben, die Angst um das Leben ihrer Kinder trieben sie voran.
Wir sahen zur Seite geschobene Leichen, Karren und tote Pferde, die den Kampffliegern zum Opfer gefallen waren. Dass auf diesem Treck nirgendwo Soldaten, Panzer oder Waffen waren, war offensichtlich, aber das war den Piloten egal. Erschöpfte Menschen saßen auf ihren Koffern, bald würde die Kälte überhand nehmen und sie würden einfach langsam und still erfrieren.
Immer wieder versuchten Frauen uns aufzuhalten, winkten uns zu, hielten ihre Kinder hoch und flehten uns an, doch bitte ihre Kinder mitzunehmen.
Anton fuhr weiter.
Er bestand darauf, dass wir für niemanden anhalten können, sie würden uns überrennen und dann wäre der Bus hoffungslos überladen. Das wäre dann auch das Ende der Reise für uns.
Es war herzzerreißend, ihre Bitten zu hören, aber wir alle verstanden, dass Anton Recht hatte – wir konnten nicht anhalten, wir konnten die Tür nicht öffnen, wir konnten niemand mitnehmen. Aber es war niederschmetternd, all die armen Seelen zu passieren, die hier draußen mit Sicherheit dem Untergang geweiht waren.
Einige der Frauen im Bus unterhielten sich leise und flüsterten mit gedämpfter Stimme, um die Kinder, die auf ihrem Schoß schliefen, nicht zu wecken. Hin und wieder gab es Schreie und Kreischen, wenn der Bus durch eisige Kurven schlitterte oder in riesige Schlaglöcher fuhr, die Anton zu spät sah. Die Schlaglöcher fürchtete er am meisten, eine gebrochene Achse würde unser Ende bedeuten.
Die Fahrt durch den Flüchtlingstreck ging nur langsam voran, und Anton drückte ständig auf die Hupe um die Flüchtlinge aus dem Weg zu scheuchen.
Manchmal, wenn sich die Straße von einem Waldgebiet in offene Steppe erweiterte, schaltete Anton das Licht aus, trat aufs Gas und ließ den Finger auf der Hupe. Er hatte Angst vor nächtlichen Kampfflugzeugen, wir waren von oben leicht zu erkennen, während wir uns auf der eisigen Straße gegen den weißen, schneebedeckten Boden abhoben.
Der Halbmond bot gerade genug Licht, um ohne Scheinwerfer zu fahren, aber manchmal stieß er mit einem Karren zusammen, der nicht schnell genug auswich. Er bremste nicht einmal ab oder schaute in den Spiegel, um zu sehen, ob er Schaden angerichtet hatte.
Der Gestank im Bus war inzwischen unerträglich geworden. Zu den Dämpfen aus den Spritkanistern kam jetzt noch der Geruch aus den offenen Eimern, und einigen Kindern war von Antons Ausweichmanövern übel geworden – sie hatten sich übergeben.
Nach zwei Stunden, als wir auf einem Straßenabschnitt ohne Flüchtlinge waren, hielt Anton den Bus an, ließ den Motor laufen und es brach eine rege Aktivität aus.
Während Anton und ich den Tankstand überprüften, stiegen die Frauen und Kinder aus dem Bus und versuchten, draußen schnell ihre Notdurft zu verrichten, vorzugsweise hinter dem Bus.
Wenn der Diesel auf ein Viertel einer Tankfüllung heruntergegangen war, musste ich volltanken. Die Kanister waren schwer und meine Arme schmerzten, das war ich überhaupt nicht gewohnt, und es war anstrengend und schmerzhaft, ein so schweres unhandliches Gewicht lange Zeit hochzuhalten.
Ich hatte noch nie einen Tank von Kanistern aufgefüllt, also wurde ich die ganze Zeit für das Verschütten von kostbarem Kraftstoff beschimpft. Mir lief Diesel über Hände und Arme und durchnässte meine Kleidung. Ich stank wie eine Tankstelle und der Sprit hat meine Haut stark gereizt, es hat Wochen gedauert, bis meine Hände abheilten.
Während wir den Tank auffüllten, nutzten einige der anderen Frauen die Gelegenheit, frischen Schnee zu sammeln, den sie schmelzten, um Trinkwasser für Tee oder Suppe herzustellen. Der Holzofen erwies sich als Glücksfall für uns.
Aber Anton trieb uns immer voran. Er hatte Angst davor, dass die Russen uns einholen oder überraschen könnten. Er hatte die Karten tagelang vor unserer Abreise studiert und eine Route entworfen, von der er hoffte, dass sie uns vor den vorrückenden russischen Panzern halten würde.
Immer wieder mussten wir umkehren, weil die zurückweichenden deutschen Truppen eine Brücke gesprengt hatten. Das waren schreckliche Momente, als wir nach Osten in Richtung der Russen zurückfuhren, bevor wir auf eine Kreuzung stießen, die uns eine weitere Chance gab, nach Westen zu fahren.
Als die Sonne aufging, waren wir gut vorangekommen, stießen aber auf eine andere Brücke, die in Stücke gesprengt worden war. Die nächste Abzweigung, an der wir vorbeigekommen waren, lag fast eine Stunde zurück in Richtung der Russen. Anton beschloss, den Fluss trotzdem zu überqueren und über das Eis zu fahren. Er befahl uns allen, aus dem Bus zu steigen, ließ uns alle Koffer und Spitkanister ausladen, um den Bus leichter zu machen, und suchte nach einer guten Stelle für einen Zugang über den zugefrorenen Fluss.
Anton fuhr den Bus vorsichtig auf das Eis und rollte langsam über den nur etwa 20 Meter breiten Fluss, aber es kam uns wie eine Ewigkeit vor, bis er es auf die andere Seite schaffte. Es knallte und knarzte wie Pistolen Schüsse und wir sahen Risse im Eis unter der Rückseite des Busses. Auf halber Höhe der Böschung begannen die Hinterräder im Schnee durchzudrehen und er glitt langsam seitwärts auf den Fluss zu. Anton winkte und schrie, dass wir rüber kommen und ihn den Hang hinaufschieben sollten.
Wir ließen alles fallen und rannten über den zugefrorenen Fluss, rutschten aus und fielen immer wieder auf unserem Weg hin. Der Bus war kurz davor, aufs Eis zu rutschen, und wir lehnten uns alle gegen die Rückwand und fingen an zu schieben. Es gelang uns, den Bus aufzuhalten, und nicht weiter zurück zu gleiten.
Anton schrie uns zu: „Schnell, holt ein paar Decken, wir müssen sie vor die Räder legen, sonst drehen sie wieder durch und ich rolle immer weiter zurück. Beeilt euch, das Eis wird das Gewicht kein zweites Mal halten!‘
Einige von uns rannten zurück, um sich die Decken zu schnappen, während der Rest gegen den Bus drückte, damit er nicht weiter rutschte.
Anton steuerte den Bus langsam und vorsichtig bis zur Straße zurück, und wir alle schrien, jubelten und klatschten. Während der nächsten halben Stunde wurde im Bus viel geredet, gelacht und gejubelt, als wir uns zu unserem kleinen Sieg gratulierten. Dann verstummte der Lärm, als eine nach der anderen vor Erschöpfung einschlief, wir waren alle müde und kaputt von dieser Anstrengung.
Die zerstörten Brücken waren ein schlimmes Problem und manchmal fühlte es sich an, als würden wir überhaupt nicht weiter nach Westen kommen. Es hatte wieder angefangen zu schneien und die Straße wurde noch gefährlicher. Mehrmals mussten wir aussteigen und einen Weg für den Bus freischaufeln, wenn Schneewehen die Straße blockiert hatten. Wir wechselten uns mit den Schaufeln ab, es war eine ermüdende Arbeit in der klirrenden Kälte und wir waren schnell erschöpft.
Zu der Erschöpfung kam noch nagender Hunger hinzu, auch unsere Vorräte gingen zur Neige, so dass wir die ganze Zeit hungrig waren. Jeder teilte, was er hatte.
Die Sonne ging unter, es hörte auf zu schneien und die Landschaft um uns herum verdunkelte sich, nur erhellt vom Halbmond.
Anton brachte den Bus zum Stehen denn es war wieder Zeit, den Tank zu überprüfen. Nachdem der Streichholztest zufriedenstellend war wollte Anton weiterfahren, aber eine der Frauen flüsterte uns zu:
Eine der Frauen flüsterte uns zu:
»Da vorn ist jemand am Straßenrand. Sie bewegen sich nicht, aber da ist definitiv jemand. Was sollen wir tun?‘
Anton bedeutete uns, wieder in den Bus zu steigen und still zu sein. Er holte seine Pistole unter dem Sitz hervor und ging langsam vorwärts, um nachzusehen.
Innerhalb von Sekunden kam Anton zurückgerannt. Er sprang herein, leichenblass, die Lippen fest zusammengepresst. Wir fragten ihn, was uns bevorstand, aber er brachte uns mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen. Er rollte den Bus vorwärts, bis wir die Schatten erreichten.
In der Dunkelheit konnten wir nur eine winzige Gestalt erkennen. Anton blieb stehen und sprang heraus. ‚Kommt schon, helft mir!‘ rief er und ein paar Frauen auf den Vordersitzen liefgen hinter ihm her. Wir strengten uns an zu sehen, was vor sich ging, konnten aber nur dunkle Schatten ausmachen, die sich im Mondlicht bewegten.
Anton kam mit einem kleinen Mädchen im Arm zurück, die Frauen trugen einen Rucksack und einen Koffer.
„Los jetzt – nehmt sie mir ab!“ Eine kleine blonde Frau stand auf und nahm das Kind aus seinen Armen.
„Wie heisst Du, Schätzchen?“ fragte sie, aber das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie zitterte und bebte vor Kälte, und wir alle kramten zusätzliche Kleidung und Decken hervor, die wir entbehren konnten, um sie einzupacken. Deine Tante Ulla hat darauf bestanden, dass ich ihr die Decken gab, mit denen ich sie warm gehalten hatte.
Sie war nur ein kleines Würmchen, nicht älter als 5 oder 6, mausbraunes Haar, dünn und abgemagert. Ihre Augen spähten groß und leer unter ihrer gefrorenen Schneekappe hervor und sie starrte regungslos vor sich hin.
„Ihre Mutter ist tot“, flüsterte Anton. „Erfroren. Es ist ein Wunder, dass das Mädchen noch lebt; sie muss eine Weile dort gesessen haben. Seht nach, ob ihr irgendwelche Dokumente im Gepäck findet, ich hab versucht, die Taschen der Mutter zu durchsuchen, aber sie ist steif wie ein Brett gefroren, ich konnte den Mantel nicht öffnen.“
Inzwischen hatte das Mädchen aufgehört zu zittern und weinte leise. Wir versuchten, ihr ein paar Löffel Suppe zu geben, konnten aber nichts in sie hineinbekommen, ihre Lippen waren vom Frost stark aufgesprungen.
Ulla beugte sich zu mir und flüsterte mir zu:
‚Die Kugeln Mutti , die Christbaum Kugeln …‘
Ich schnappte mir unseren Koffer vom Gepäckträger, öffnete ihn und holte vorsichtig den Karton mit den Kugeln heraus. Ich nahm eine glänzende rote Kugel heraus und reichte sie dem kleinen Mädchen. Sie nahm sie in ihre winzigen geschwollenen Hände. Ein zartes Lächeln stahl sich über ihr Gesicht.
„Boże Narodzenie – Weihnachten“, flüsterte sie.
Anton räusperte sich und dröhnte: „Na ja, jetzt wissen wir wenigstens, dass sie nicht stumm ist, und sie ist Polin, also lasst uns endlich weiter fahren…“
„Lass sie erst mal schlafen, die Suppe probieren wir später noch einmal“, sagte die blonde Frau, die das Mädchen auf dem Schoß hielt. „Ich werde mich schon um sie kümmern.“
Anton kletterte wieder auf den Fahrersitz und der Bus rollte los.
Eine der älteren Frauen zeigte auf die blonde Frau, die das kleine Mädchen hielt, und flüsterte:
„Sie hat ihren kleinen Jungen vor zwei Wochen bei einem Bombenangriff verloren …“
Trotz seines schroffen und ungehobelten Auftretens hatte Anton dann doch offensichtlich noch einen Funken Anstand und Güte übrig, um das kleine Mädchen mitzunehmen.
Er hatte uns gebeten, aus Bohnen, die er auf dem Schwarzmarkt getauscht hatte, einen starken Kaffee zu brühen. Der Geruch im Bus war berauschend, die meisten von uns hatten wegen der Rationierung seit Jahren keinen echten Kaffee mehr gerochen. Wir schütteten ihm jede halbe Stunde Kaffee ein, um ihn wach zu halten.
Er war inzwischen mehr als 30 Stunden ununterbrochen gefahren und hatte Angst, am Steuer einzuschlafen. Er bat uns, das Eis von den Fenstern zu kratzen und einzusammeln, es nach vorne zu bringen und es ihm in den Hals zu stopfen und ins Gesicht zu reiben, damit er wach bleibe. Dann forderte er uns auf, laut zu singen und zu klatschen – alles, um ihn wach zu halten, da er furchbare Angst hatte einzunicken.
Der nächste Morgen kam und es fing wieder an zu schneien. Wir fuhren stetig weiter, die Mittagszeit kam und wurde zum Nachmittag. Ich weis nicht mehr, wie oft wir noch anhalten, aussteigen, durch Schneewehen schaufeln, den Tank auffüllen, Kaffee in Anton gießen und Eis in seinen Rücken stopfen mussten.
Als die Sonne hinter dem Horizont versank, wurden die Schatten länger und wieder wurden wir von der Dunkelheit verschluckt.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kamen wir zu einer Straßensperre am Ortseingang einer Siedlung. Die deutschen Soldaten ließen uns nach einem kurzen Wortwechsel mit Anton durch, und wir folgten ihren Anweisungen zum Bahnhof. Karren, Lastwagen und mehrere Krankenwagen waren dort geparkt.
Anton manövrierte den Bus an den Bordstein. Seine letzten Worte waren:
„Endstation, meine Damen. Lassen sie nichts zurück….“
Er sank in seinem Sitz nach vorne, legte die Stirn auf das Lenkrad und fing an, laut zu schnarchen.
Wir versuchten, ihn hochzuziehen, um ihn hinauszutragen, aber er bewegte sich nicht. Die vielen Tassen Kaffee – na du kannst dir ja vorstellen, was passiert war … seine nasse Hose hatte ihn am Sitz festgefroren.
Wir baten ein paar Pfleger um warmes Wasser, und gossen es über seine Schenkel, um ihn vorsichtig vom Sitz zu schmelzen. Das gab vielleicht ein Gelächter und Gekicher!
Als die Pfleger den schnarchenden Anton wegtrugen, wich das kleine Mädchen nicht von seiner Seite. Mit der anderen Hand zog sie die kleine blonde Frau mit sich.
Ich weis weder den Namen des kleinen Mädchens noch den der blonden Frau. Ich hoffe, sie haben es geschafft lebend in den Westen zu entkommen.
Und Anton natürlich. Er war unser Held – ein verschlagener, listiger, ungehobelter, schroffer und sehr unwahrscheinlicher Held. Er hat uns alle gerettet.
Wir haben es bis nach Heiligenhafen im Westen geschafft und irgendwann ging es deiner Tante Ulla wieder besser, sie kam wieder zu Kräften, konnte wieder laufen und sogar ihre Haare wuchsen wieder. Wir haben dann aus dem Nichts wieder neu angefangen, wie wir es zuvor schon mal geschafft haben.
Und zu Weihnachten haben wir die Kugeln an einen Tannenzweig gehängt, einen Baum konnten wir uns lange nicht leisten, das erste Weihnachten nach dem Krieg konnte das sowieso niemand.
Aber wir hatten unsere schönen Kugeln. Eine ging kaputt, vielleicht als wir den zugefrorenen Fluss überquerten. Wir haben noch vier der originalen Christbaumkugeln, die uns Graf Diaselsky geschenkt hat. Und jetzt kennst du ihre Geschichte, warum sie einen besonderen Platz in meinem Herzen haben und an den Baum gehören … und warum sie niemals einfach weggeworfen werden sollten. Sie haben einen langen Weg zurückgelegt, genau wie wir.
Ich hoffe, du behältst sie, wenn sie irgendwann einmal deine Kugeln sind. Sie sind Teil unserer Familiengeschichte. Vergiss das nicht! ”
„Ich werde es nicht vergessen, versprochen. Ich werde sie in Ehren halten und mich sorgfältig um sie kümmern.“
„Na, das ist ja schön mein Kleiner. So, jetzt hilf mir mal auf, Zeit fürs Bett, all das Reden hat mich müde gemacht. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.“
Mein Vater löschte die letzte Glut seiner Zigarre im Aschenbecher.
„So, jetzt kennst du die Geschichte mein Junge. Jetzt weißt du, was ihr die Kugeln bedeuten. Es gibt viele ähnliche Kriegs – und Flucht Geschichten. Keine von ihnen ist schön. Omi hat natürlich Recht – wir sollten uns immer daran erinnern was geschehen ist. Es war erschütternd, das sind furchtbare Dinge, was die armen Menschen durchgemacht haben. Das Wichtigste ist, dass man überlebt hat, viele haben es nicht geschafft. Als der Landweg von den Russen erobert und blockiert wurde starben Zehntausende in der Ostsee beim Versuch, sie in klapprigen Booten zu überqueren. Deine Omi und Tante Ulla hatten wahnsinniges Glück, dass sie überlebt haben.“
Bis heute bin ich meiner Omi dankbar dafür, dass sie davon erzählt hat, wie diese stumpfen, verblichenen und unansehnlichen Christbaumkugeln in unsere Familie gekommen sind.
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Das ist die Geschichte meiner Großmutter von den alten Christbaumkugeln.
Jahrzehnte später, als mein Interesse an der Familiengeschichte neu geweckt wurde, versuchte ich herauszufinden, an welchen Dörfern sie vorbeigekommen sein könnten und wie die Stadt mit dem Bahnhof hieß, von dem sie dann weiter in den Westen entkamen. Ich versuchte herauszufinden, welche Strecke sie in diesen schicksalhaften 48 Stunden Fahrt zurückgelegt haben.
Die Omi war da schon in sehr fortgeschrittenem Alter und konnte oder wollte sich nicht mehr erinnern; all diese Details waren jetzt verschwommen. Auch wie der Name des Fürsten Diaselsky genau buchstabiert wurde habe ich nie herausgefunden, so dass ich ihn letztlich so geschrieben habe, wie er sich in meiner Erinnerung als kleiner Bub damals angehört hat.
Die Omi bedauerte, Anton nicht nach seinem Nachnamen gefragt zu haben. Und sie hätte liebend gerne erfahren, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist.
Sie hoffte immer, dass sie überlebt hat, vielleicht selbst eine Familie hat und dass ihre Kinder womöglich jedes Jahr eine alte verblichene rote Kugel an ihren Weihnachtsbaum hängen.
Nachdem mein Vater gestorben war, haben es unsere vier verbliebenen Christbaumkugeln bis nach Neuseeland geschafft.
Weihnachten ist ja eigentlich mehr was für Kinder.
Sie sollen sich an der Schönheit der Dekorationen erfreuen und erfahren, was sie uns bedeuten.
Deswegen beschloss ich vor ein paar Jahren, dass es an der Zeit war, all unseren geschätzten Weihnachtsbaumschmuck und die Weihnachtskrippe an meinen Neffen Oliver weiterzugeben, und so wurden sie den ganzen Weg zurück nach München geschickt.
Jetzt ist es an der Zeit, dass er der Hüter der Traditionen unserer Familie ist.
Oliver hat jetzt selbst einen kleinen Jungen, der die Weihnachtszeit liebt. Kilian genießt es, in den Wochen vor Weihnachten mit seinem Vater Hirtenhütten und Brennholzstapel für die Krippe zu bauen. Diese kreativen Stunden beim Basteln an der Familienkrippe schaffen wertvolle Erinnerungen. Erinnerungen, an die er hoffentlich gerne denkt, wenn er dann selbst mal erwachsen ist und kleine Kinder hat.
Ich habe meine Erinnerungen, und die reichen mir. Ich muss die Christbaumkugeln nicht mehr in der Hand halten.
Wenn ich meine Augen schließe und in die Zeit zurückreise zu diesem besonderen Weihnachtsabend – damals, als ich 13 war und meine Großmutter mir ihre Geschichte erzählte – dann sehe ich uns drei in Gedanken dort sitzen. Ich rieche die brennenden Kerzen, die Tannennadeln des Baumes, ich höre die Musik von der zerkratzten Schallplatte mit Weihnachtsliedern.
Ich sehe die vier Kugeln.
Sie sind mit Wachströpfchen von unzähligen Christbaumkerzen überzogen.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, sie zu halten.
Ja – sie sind unscheinbar und verblichen.
Aber ich weiß, wie kostbar sie sind.
Und ich weiß, dass eine Kugel – die verschenkte – die Wertvollste von allen war.