«Und wieder ist es – Last Christmas»
Vor vierzig Jahren schrieb George Michael seinen Weihnachtshit. Der schnulzige Pop-Song wird heute so oft gehört wie nie und ist einer der lukrativsten in der Musikgeschichte.
Nun tönt es wieder aus allen Lautsprechern, in der Bar, im Warenhaus, auf dem Weihnachtsmarkt. Mit jedem Tag, mit dem wir uns Heiligabend nähern, läuft das Lied häufiger im Radio. Jeder kennt «Last Christmas», jeder könnte mitsingen, und während die einen das begeistert tun, verdrehen andere die Augen. Kein Lied ist so populär und gleichzeitig so verhasst wie der Weihnachts-Hit von Wham! aus dem Jahr 1984.
«Last Christmas» verkaufte sich weltweit 16 Millionen Mal und wurde 4,9 Milliarden Mal gestreamt; der Song hat bis heute Hunderte von Millionen Euro eingespielt. Aber in diesem Text geht es nicht nur um beeindruckende Zahlen. Sondern auch darum, wie «Last Christmas» in den vergangenen vierzig Jahren immer wieder neue Weihnachtsgeschichten geschrieben hat. Zum Beispiel diese:
Zwei Weihnachten nach «Last Christmas» gibt es Wham! nicht mehr. Andrew Ridgeley und George Michael trennen sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, nachdem es bereits beim Videodreh zu dem Song gekriselt hat.
Zwanzig Weihnachten nach «Last Christmas» erfinden vier junge Dänen ein Spiel, in dem es um nichts anderes geht als darum, dem allgegenwärtigen Weihnachts-Hit zu entkommen; inzwischen spielen jedes Jahr Hunderttausende von Leuten mit.
Zweiunddreissig Weihnachten nach «Last Christmas» stirbt George Michael, ausgerechnet am 25. Dezember. Das macht seinen populärsten Song noch populärer.
Achtunddreissig Weihnachten nach «Last Christmas» startet eine Frau in Schweden ein Crowdfunding, um die Rechte an dem Lied zu kaufen und es dann für immer in tiefster Erde zu begraben.
Vierzig Weihnachten nach «Last Christmas» will man in Saas-Fee, wo das legendäre Musikvideo zu dem Song gedreht wurde, endlich auch Geld damit verdienen.
Im Kinderzimmer komponiert
Die Geschichte eines der bekanntesten Weihnachtssongs der Welt beginnt im Sommer 1984. Andrew Ridgeley und George Michael sind 21 Jahre alt, sitzen nach dem Mittagessen im Wohnzimmer von Georges Eltern vor dem Fernseher und schauen Fussball. Plötzlich rennt George in den oberen Stock. In seinem alten Kinderzimmer beginnt er, den Refrain von «Last Christmas» zu singen. In etwas mehr als einer Stunde komponiert er das Lied mit einem einfachen Aufnahmegerät. Als er wieder ins Wohnzimmer kommt, ist er so aufgeregt, als habe er Gold entdeckt, wie Andrew später in Interviews erzählt. George sagt: «Ich habe es geschafft! Wir haben einen Weihnachts-Hit!»
Die beiden hatten sich zehn Jahre zuvor kennengelernt. Georgios Kyriacos Panayiotou, genannt Yog, kommt damals neu auf die Bushey Meads School im Nordwesten von London. Er ist der Sohn eines griechisch-zypriotischen Restaurantbesitzers, trägt dicke Brillengläser, ist pummelig und scheu. Andrew hingegen ist frech und selbstbewusst, doch etwas zieht ihn zu Yog hin. Die beiden werden unzertrennlich.
Stundenlang hören sie Musik. Später ziehen sie zusammen durch die Klubs im Londoner Westend. Mit sechzehn gründen Andrew und Yog ihre erste Band, mit achtzehn die zweite. Sie nennen sie Wham!, weil es cool klingt. Nun braucht auch Yog einen Star-tauglichen Namen: Aus Georgios Kyriacos Panayiotou wird George Michael.
Ihre erste Single «Wham Rap!» ist kein Erfolg, auch die zweite, «Young Guns», wird kein Hit. Erst ein Anruf im November 1982 verändert alles. Andrew Ridgeley und George Michael springen bei der beliebten Hitparadenshow «Top of the Pops» der BBC ein, weil eine Band ausfällt. Ihre Musik ist mittelmässig, die Tanzchoreografie erinnert an eine Schüleraufführung. Doch das Publikum liebt die zwei neuen Gesichter. Über Nacht wird Wham! in Grossbritannien bekannt.
Im Juli 1983 kommt ihr erstes Album «Fantastic» auf den Markt. Musikkritiker tun ihren Pop als banal ab, das vorwiegend junge und weibliche Publikum aber kreischt, wo immer Andrew und George auftauchen. Ihre Tourneen sind ausverkauft. Bald tapezieren Mädchen überall in Europa ihre Kinderzimmer mit Wham!-Postern aus Magazinen wie «Bravo».
Die Zeit der frechen Rocker und der sozialkritischen Punks ist vorbei, Andrew und George sind ein typisches Produkt der 1980er Jahre: angepasst und unpolitisch. Zwei hübsche Jungs mit perfekt sitzenden Föhnfrisuren und blonden Mèchen. Sie tragen knappe bunte Shorts oder Jeans mit Pailletten zu weissen Netz-T-Shirts und Blazern mit Schulterpolstern. In ihren Texten geht es nicht um gesellschaftliche Probleme oder um Krieg, es geht um junge Menschen, die Party machen und das Leben geniessen wollen. Das Schlimmste, was passieren kann, so die Botschaft der Songs, ist Liebeskummer.
«Nach aussen hin wirkten die beiden wie Zwillinge, charakterlich waren sie aber grundverschieden», sagt ihr damaliger Manager Simon Napier-Bell heute. Andrew will mit seinem besten Freund Musik machen und Spass haben. George imitiert ihn, fühlt sich in der Rolle des Sunny Boys aber unwohl. Er ist noch immer gehemmt, glaubt aber an seine Musik und ist ehrgeizig. Beim ersten Treffen mit dem Manager Anfang 1983 sagt der 19-Jährige: «Ich erwarte, dass du uns innerhalb eines Jahres zur bekanntesten Gruppe der Welt machst.»
«George wusste genau, was er wollte, und arbeitete hart darauf hin», sagt Napier-Bell. «Last Christmas» sei kein Zufallstreffer gewesen. George habe unbedingt einen Weihnachts-Hit landen wollen. «Er wusste: ein solcher würde ihn unsterblich machen.»
Anfangs schreiben die beiden ihre Lieder zusammen, doch George Michael hat viel mehr Talent und komponiert bald allein. So entsteht auch «Last Christmas», das er an jenem Nachmittag in seinem alten Kinderzimmer schreibt und im August 1984 in einem heruntergekommenen Studio in London aufnimmt. Um in Stimmung zu kommen, lässt er das Studio von zwei Assistenten mit Girlanden weihnachtlich schmücken. Weder Andrew noch den Vertreter der Plattenfirma will er bei der Aufnahme bei sich haben. Nur der Tontechniker ist anwesend, während George den Song allein einspielt. Nicht einmal das Klingeln des Schlittenglöckchens überlässt er jemand anderem.
Die Aufnahme dauert Wochen, wie der Tontechniker später erzählt, weil George Michael zwar ein begnadeter Komponist und Sänger, aber kein Musiker ist. Er kann weder die Drum-Machine bedienen noch den analogen Synthesizer. Auf dem Keyboard spielt er mit zwei Fingern. «Es hat alle viel Nerven gekostet, aber am Ende ist George ein brillanter Song gelungen», sagt Simon Napier-Bell. «Schon wenn man ‹Last Christmas› das erste Mal hört, hat man das Gefühl, es klinge vertraut, weil man darin Rhythmen und Akkordabfolgen wiedererkennt. Das macht einen guten Pop-Song aus, er klingt neu und doch bekannt. George war ein Meister darin.»
Viele Stars nehmen Weihnachtssongs nur widerwillig auf – in der Hoffnung auf langfristiges Einkommen oder weil sie von ihrem Label dazu gedrängt werden. Bei George Michael ist es nicht so. Er liebt Weihnachten. Am liebsten verbringt er die Festtage mit seinen Freunden, und genau so will er auch das Musikvideo zu «Last Christmas» gestalten: Eine Gruppe von Freunden feiert in einem Chalet in den Bergen gemeinsam Weihnachten.
Keine Stretchlimousine in Saas-Fee
Der Plan sieht vor, das Video im eleganten Skiort Gstaad zu drehen, doch die Aufnahmen müssen im November fertig sein, und so früh liegt dort noch kein Schnee. Auf der Suche nach einem geeigneten Drehort ruft der Produzent Beat Anthamatten an, den er ein Jahr zuvor in Saas-Fee kennengelernt hat. «Kommt zu uns, hier hat’s Schnee», sagt der junge Direktor des Hotels Walliserhof. Zusammen mit dem Produzenten findet er in wenigen Tagen ein perfektes Häuschen auf einem schneebedeckten Hügel am Rande des Dorfes, das Chalet Schliechten.
Am Ende wird dort nur von aussen gedreht, weil sich George Michael für die Innenaufnahmen einen Kamin wünscht, den es im Chalet nicht gibt. Die Weihnachtsszene wird deshalb in einem Gemeindesaal gefilmt. Anthamatten und seine Mitarbeiterinnen helfen dabei, den spartanisch eingerichteten Raum mit Möbeln, Geschirr und anderen Requisiten aus dem Hotel in eine gemütliche Stube zu verwandeln.
Die Bewilligungen für die Filmaufnahmen bekommt die britische Filmcrew innert wenigen Tagen. Saas-Fee ist schon damals autofrei, aber die Behörden erlauben den Darstellern unbürokratisch die Zufahrt in zwei Jeeps. Viele im Ort helfen mit, das Projekt möglich zu machen – und dies, obwohl Wham! hier oben auf dem Berg Ende 1984 noch niemand kennt. Die Saaser wollen den britischen Gästen einfach die Schönheit der Walliser Alpen zeigen, schliesslich leben sie vom Tourismus.
Nur die Forderung der zwei jungen Pop-Stars, mit einer Stretchlimousine zu den Drehorten gefahren zu werden, geht der Gemeinde zu weit. Andrew und George werden sich wie alle Gäste in kleinen Elektrofahrzeugen herumchauffieren lassen müssen, entscheiden die Behörden.
Ende Oktober reist die Crew an. Fast alle Darsteller sind Bekannte von Andrew und George: ihre Backgroundsängerinnen Pepsi und Shirlie, deren Freund Martin Kemp, Bassist bei Spandau Ballet, und andere langjährige Freunde aus der Musikszene. Nur eine Darstellerin ist ein professionelles Model. Die Weihnachtsfeier soll authentisch und locker wirken.
Während der Aufnahmen wird viel gelacht und getrunken, wie Beteiligte später erzählen. Dass sich die Darsteller während des dreitägigen Drehs amüsieren, scheint das Erfolgsgeheimnis des Videos zu sein.
Die Story ist inzwischen weltberühmt: Eine Gruppe junger Frauen und Männer trifft sich bei einer Gondelbahn und fährt hinauf in ein Chalet. Die Stimmung ist ausgelassen. Eine Schneeballschlacht, das Schmücken des Christbaums und zum Schluss das Weihnachtsessen an einem üppigen Tisch. Nur etwas trübt die Szene, George hat Liebeskummer. Die angebetete Brünette, der er vor einem Jahr sein Herz geschenkt hat, sitzt neben ihrem neuen Lover, gespielt von Andrew. Traurig denkt George an vergangene Weihnachten zurück, eben an Last Christmas.
Die 25-köpfige Crew ist im «Walliserhof» untergebracht, schon damals das beste Hotel im Ort. Die jungen Briten seien wilde Gäste gewesen, erinnert sich der Direktor Beat Anthamatten. Sie hätten jeden Abend gefeiert und viel getrunken. Einige seien nackt von einem Balkon zum anderen gehüpft. Sie seien unbeschwert gewesen hier oben, wo sie niemand kannte. Die Abschlussparty im Schwimmbad sei richtig ausgeartet.
Weder die britischen Gäste noch die Bewohner von Saas-Fee ahnen, dass das Video einmal Kultstatus erreichen und auf Youtube über eine Milliarde Mal angeschaut werden wird. 1984 gibt es das Internet noch nicht. Aber einer Sache ist sich George Michael damals sicher: «Last Christmas» wird ein Nummer-eins-Hit werden.
Als er aus Saas-Fee zurückkommt, liegt eine Einladung in seinem Büro. Der irische Rockmusiker Bob Geldof trommelt die Stars der Musikbranche zusammen, um einen Weihnachtssong aufzunehmen, dessen Erlös an die Opfer der Hungerkatastrophe in Äthiopien gehen wird. Auch George Michael soll dabei sein, doch er mag sich nicht richtig darüber freuen. Er ahnt, dass sein Lied gegen das Benefizprojekt von Band Aid keine Chance haben wird.
Tatsächlich wird «Last Christmas» im Dezember 1984 von «Do They Know It’s Christmas?» in allen Hitparaden übertrumpft. «Für George war die Nummer eins wichtiger als alles andere. Er war extrem enttäuscht, aber er durfte es sich nicht anmerken lassen», sagt sein früherer Manager Simon Napier-Bell. «Er konnte ja nicht sagen, er gönne dem Wohltätigkeitsprojekt den Erfolg nicht!»
Der Weihnachtssong von Wham! wird in die Geschichte eingehen als das Lied, das am längsten brauchte, um die Spitze der Charts zu erreichen. George Michael wird es nicht mehr erleben, dass sein grösster Wunsch in Erfüllung geht.
Ein schön gefärbtes Märchen
Zwei Weihnachten nach «Last Christmas» gibt es Wham! nicht mehr. Am 28. Juni 1986 verabschiedet sich die Band mit einem Abschiedskonzert im Wembley-Stadion.
Im Nachhinein wird das Wham!-Märchen schön gefärbt. Ein Netflix-Film über die Band, der im vergangenen Jahr herausgekommen ist, erzählt die Geschichte einer innigen Freundschaft, die selbst die berufliche Trennung überstand. Auch eine neue BBC-Dokumentation über «Last Christmas», die in diesen Tagen erscheinen soll, dürfte die Differenzen zwischen den zwei Bandkollegen nicht thematisieren. Zeitzeugen in Saas-Fee, die für die Dokumentation interviewt wurden, erzählen, dass die Filmer kein kritisches Wort hätten hören wollen, nur hübsche Anekdoten.
Beat Anthamatten erzählt jedoch, zwischen George Michael und Andrew Ridgeley habe es bereits während des Aufenthalts in Saas-Fee gekriselt. «Sie hatten die Suiten 457 und 668, weiter auseinander hätten wir sie nicht unterbringen können, das hatten sie ausdrücklich verlangt», erinnert sich der damalige Direktor des «Walliserhofs». Seine Angestellten hätten zudem beobachtet, wie sich die beiden auch beim Essen aus dem Weg gegangen seien und nicht miteinander gesprochen hätten.
Am meisten ärgert den Hoteldirektor, dass es kein Foto von den zwei Pop-Stars in seinem Haus gibt. Als er darum gebeten habe, sei nur George Michael gekommen. Das Bild, das den Sänger lächelnd vor dem Hoteleingang zeigt, hängt bis heute im «Walliserhof».
Ein Mädchenschwarm darf nicht schwul sein
Ohne seinen extrovertierten Schulfreund wäre George Michael wohl nie Musiker geworden. Andrew Ridgeley gab ihm als Teenager das nötige Selbstvertrauen. Doch nun ändert sich die Dynamik. Wham! wird immer mehr zu einer One-Man-Show. George Michael komponiert, textet, interpretiert und produziert nun alles selber. Im Juli 1984 hat er mit «Careless Whisper» sogar bereits eine erste Solo-Single herausgebracht. Andrew steht nur noch bei den Auftritten neben ihm. Die alte Freundschaft leidet unter dem Ungleichgewicht.
George Michael möchte auch kein Teenie-Idol mehr sein. Er will anspruchsvollere Musik machen und von den Kritikern ernst genommen werden. In der Rolle des Mädchenschwarms fühlt er sich immer unwohler. Sein Bandpartner und seine Freunde wissen, dass er schwul ist. Sie raten ihm aber, es vorerst geheim zu halten – wegen seines Vaters und wegen der Karriere.
In den 1980er Jahren ist auch das Publikum in Europa noch nicht sehr tolerant. Die Aids-Epidemie wütet, Homosexuelle werden dafür verantwortlich gemacht. Deshalb gibt sich George heterosexuell und trauert im Video von «Last Christmas» einer Verflossenen nach, obwohl sein Manager heute sagt, er habe das Lied damals für einen Mann geschrieben.
Nach der Trennung gelingt George Michael die Verwandlung vom Teenie-Idol zum erwachsenen Pop-Star. Er trägt nun Bart und schwarze Lederjacken. Sein Coming-out folgt erst 1998, als er sich durch einen Skandal um Sex in einer öffentlichen Toilette dazu gezwungen sieht. Keiner seiner ambitionierteren späteren Songs kommt auch nur annähernd an den Erfolg des simplen Ohrwurms «Last Christmas» heran.
Andrew Ridgeley schafft es nicht, sich als Solo-Musiker zu etablieren. Er wird die nächsten Jahrzehnte vom vergangenen Ruhm und von den Einkünften aus den Wham!-Songs leben. An «Last Christmas» verdient er allerdings nicht mit. Weil George den Weihnachts-Hit alleine geschrieben und aufgenommen hat, kassiert er auch sämtliche Tantiemen.
Wer entkommt dem Ohrwurm?
Zwanzig Weihnachten nach «Last Christmas» formiert sich Widerstand. Anfang Dezember 2004 sitzen vier junge Dänen in einer Küche am Rande von Aarhus und fragen sich, ob es möglich sei, dem Lied zu entkommen. Sie sind Jugendfreunde und Nerds, die Computer- und Rollenspiele lieben. An diesem Abend schliessen sie eine Wette ab: Wer es schafft, den Weihnachtssong von Wham! bis zum 24. Dezember nicht zu hören, hat gewonnen. Im ersten Jahr scheitern alle vier, aber das Spiel macht ihnen so viel Spass, dass sie es Advent für Advent wiederholen. Vorerst spielen es nur die vier Freunde in einer privaten Chat-Gruppe.
2016 kommt Thomas Mertz, einer von ihnen, auf die Idee, das Spiel auszuweiten. Der IT-Berater kreiert eine Website und eine Facebook-Gruppe und lanciert das Überlebensspiel online unter dem Namen «Whamageddon» – in Anlehnung an das biblische Armageddon, den Ort der endzeitlichen Entscheidungsschlacht. In dem Spiel geht es darum, der Originalversion von «Last Christmas» vom 1. bis zum 24. Dezember zu entkommen. Wen es erwischt, der deklariert sich als «wham’d out» und wird auf einer Weltkarte mit einem Totenkopf markiert. Wer bis Weihnachten durchhält, darf sich «Überlebender» nennen.
«Whamageddon» ist von Anfang an ein Erfolg. Im Dezember 2016 spielen Zehntausende mit.
Hype nach George Michaels Tod
Zweiunddreissig Weihnachten, nachdem er in seinem Kinderzimmer «Last Christmas» komponiert hat, stirbt George Michael, am Weihnachtstag, dem 25. Dezember 2016. Der unerwartet frühe Tod des Pop-Stars mit 53 Jahren schockiert die Fans und verleiht seinem Weihnachts-Hit neuen Auftrieb. In der folgenden Woche wird «Last Christmas» weltweit fast 40 Millionen Mal gestreamt, und mit jeder Weihnacht steigen die Streams in den folgenden Jahren weiter an.
Weil das Streaming inzwischen ausschlaggebend für die Charts ist, erreicht das Original von «Last Christmas» im Dezember 2020, sechsunddreissig Weihnachten nach seiner Veröffentlichung, zum ersten Mal Platz eins der Hitparade in Grossbritannien. In den folgenden Jahren schafft es das Lied regelmässig an die Spitze der Charts in den meisten europäischen Ländern.
Jedes Jahr kommen mehr Coverversionen hinzu: Ariana Grande und Taylor Swift gehören zu den vielen Stars, die ihre eigene Version von «Last Christmas» herausbringen.
Der Tod von George Michael macht auch «Whamageddon» noch berühmter. Die Teilnehmerzahl vervielfacht sich im zweiten Jahr. 2022 erreicht sie mit einer halben Million ihren bisherigen Rekord. Auf allen Kontinenten wird «Whamageddon» heute gespielt, und im Netz sind verschiedene Nachahmergruppen aufgetaucht. Thomas Mertz ist stolz, dass seine Idee so beliebt ist: «Hauptsache, die Leute amüsieren sich.»
Am 1. Dezember, eine Minute nach Mitternacht, hat er das Spiel für dieses Jahr eröffnet. Dabei hat «Whamfather Thomas», wie ihn die Teilnehmer nennen, seine Brüder und Schwestern ermahnt: «Denkt daran . . . es ist ein Marathon, kein Sprint. Haltet durch, und seid immer wachsam!»
Viele Spieler sind in der Zwischenzeit aber bereits ausgeschieden, manche hat es schon in den ersten Stunden erwischt. Teilnehmende berichten in den sozialen Netzwerken unter #whamageddon darüber, wie sie erwischt wurden oder dem «Tod» knapp entgingen.
Der 43-jährige Thomas Mertz sagt, die Herausforderung werde mit jedem Jahr grösser. Ihm hilft, dass er seit der Pandemie mehrheitlich im Home-Office arbeitet. Er trifft aber noch viele weitere Vorsichtsmassnahmen, um nicht von «Last Christmas» erwischt zu werden. Radio hört der Spielfreak im Dezember nie, er schaut auch keine Reels oder Videos mehr an und streamt keine Musik. Weihnachtseinkäufe macht er nur noch online, weil Shoppingzentren zu gefährlich sind. Wenn Mertz das Haus in der Vorweihnachtszeit überhaupt je verlässt, trägt er wie viele seiner Mitspielerinnen und Mitspieler konsequent Kopfhörer.
In Sicherheit ist er trotzdem nie. «Whamageddon» ist inzwischen so verbreitet, dass es auch viele Leute kennen, die nicht mitspielen, und sich einen Spass daraus machen, Teilnehmende hereinzulegen. Die Schwester von Thomas Mertz etwa versucht jedes Mal, wenn er bei ihr zu Besuch ist, «Last Christmas» zu spielen. Er ist ihretwegen auch schon gescheitert.
Barkeeper, DJ und Stadionsprecher versuchen sich in der «wham assassination», wie der Sabotageakt heisst. Ein Kommentator im englischen Northampton liess während eines Fussballspiels im vergangenen Dezember «Last Christmas» laufen und warf damit auf einen Schlag Tausende von Zuschauern aus dem Spiel. Das kam gar nicht gut an, nach einem Shitstorm in den sozialen Netzwerken musste er sich öffentlich bei seinen «Opfern» entschuldigen.
Thomas Mertz, ein Hüne mit Glatze und dichtem blonden Bart, sieht aus wie jemand, der lieber Heavy Metal hört als sentimentale Weihnachtsmusik. Doch er ist ein grosser Pop-Fan und liebt Wham!, wie er im Gespräch sagt. «Uns ging es nie darum, das Lied zu boykottieren, uns ging es um den Spass an der Wette.»
Unter seinen Mitspielern gibt es allerdings auch Leute, die «Last Christmas» hassen. Weil sie den Song musikalisch banal oder zu schnulzig finden oder weil sie ihn nicht mehr hören können. «Seit vierzig Jahren muss ich ihn ertragen, den Terror von Wham!», schreibt einer. «Wenn ich sterben werde, ohne den Song noch einmal gehört zu haben, dann werde ich ein gutes Leben gelebt haben», ein anderer.
Doch egal, wie viele es hassen, noch mehr lieben es: «Last Christmas» ist einer der meistgehörten Pop-Songs überhaupt.
Zu Zeiten von Wham! wusste man nur, wie oft eine Single oder eine LP verkauft wurde. Heute kann man ziemlich genau messen, wie oft ein Lied gehört wird. Spotify publiziert seit 2013 Zahlen dazu. In dieser Zeit wurde «Last Christmas» auf dem grössten Streamingdienst weltweit über 1,6 Milliarden Mal gestreamt. Da Spotify rund einen Drittel des Marktes kontrolliert, dürften es insgesamt 4,9 Milliarden Plays gewesen sein. Nur ein einziger Weihnachtssong wurde öfter gehört: Mariah Careys «All I Want for Christmas Is You» aus dem Jahr 1994 kam nach dieser Berechnung auf 5,9 Milliarden Plays.
«Es ist immer noch der Traum jedes Künstlers, einen Weihnachts-Hit zu schreiben», sagt Antony Hamer-Hodges, Leiter des London College of Contemporary Music. «Wer einen Song kreiert, der jedes Jahr an Weihnachten gehört wird, dem ist ein langfristiges Einkommen garantiert.» Laut dem Musikbusiness-Experten ist es jedoch sehr schwierig, einen solchen Hit zu landen, weil es dabei eben nicht nur um den Geschmack der Zeit, sondern auch um Erinnerungen und Nostalgie geht.
Nur ein paar wenige Künstler verdienten mit Weihnachtsliedern gutes Geld, sagt Hamer-Hodges. Das habe auch damit zu tun, dass die meisten Nutzer bei Spotify, Apple Play und anderen Anbietern fertige Weihnachts-Playlists streamten, auf denen immer dieselben zwanzig bis fünfzig Lieder zu finden seien. «Last Christmas» und «All I Want for Christmas» seien auf allen Playlists ganz weit vorne.
Ein Song wird zur Geldmaschine
Die Weihnachts-Hits von Mariah Carey und Wham! gehören zu den lukrativsten Songs aller Zeiten. George Michael soll laut Schätzungen bis zu seinem Tod 2016 mit «Last Christmas» umgerechnet über 355 Millionen Euro verdient haben. Der Musikexperte Hamer-Hodges hält diese Schätzungen für realistisch, betont aber, dass es unmöglich sei, die Einnahmen des Songs genau zu beziffern. Verträge zwischen Musikern und Plattenlabels sehen unterschiedlich aus und werden kaum je publik gemacht. Die Verteilung von Tantiemen ist zudem schwer durchschaubar, weil die Gewinne aus dem Urheberrecht zwischen verschiedenen Begünstigten aufgeteilt werden müssen. In jedem Land wird dies anders gehandhabt.
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Copyright: jenes der Songwriter und Komponisten und jenes der Interpreten. George Michael dürfte als alleiniger Songwriter und Interpret von «Last Christmas» rund einen Drittel des Erlöses aus den insgesamt 16 Millionen verkauften Platten, CDs und Downloads bekommen haben. Der Rest ging an sein Plattenlabel, das Aufnahme, Vertrieb und Werbung finanziert hatte – an Epic Records, das später von Sony übernommen wurde.
George Michaels Erben kassieren weiterhin jedes Jahr Millionen von Euro. Das Copyright des Interpreten muss bis siebzig Jahre nach Veröffentlichung eines Songs bezahlt werden, in dem konkreten Fall bis 2054. Jenes des Songschreibers gilt gar bis siebzig Jahre nach dessen Ableben, also bis 2086. Die Rechte an einem Song werden in der Regel von einem Musikverlag verwaltet, für George Michael und dessen Erben tut dies Warner Chappell UK.
Die Einnahmen durch Streaming variieren je nach Zahl der Abonnenten und Steuern in einem Land. In Grossbritannien bekommt das Plattenlabel laut Hamer-Hodges rund einen Drittel eines Pennys, umgerechnet 0,4 cents pro Play. 2023 brachte «Last Christmas» mit 100 Millionen Plays Sony allein in Grossbritannien 430 000 Euro ein. Rechnet man den Betrag auf die weltweit 865 Millionen Streams hoch, waren es 3,750 Millionen Euros. 25 Prozent davon dürfte George Michael als Interpret kassiert haben, nicht eingerechnet ist dabei sein Anteil als Songschreiber. Die Erben des Pop-Stars verdienten 2023 allein mit Streaming somit deutlich über eine Million Euro.
Hinzu kommen Einnahmen der Urhebers aus Lizenzen und Konzessionen, wenn ein Lied für Filme oder Werbespots genutzt wird, wenn es im Radio gespielt wird oder wenn es an öffentlichen Orten wiedergegeben wird, sei es in einem Klub, beim Friseur oder im Hotellift.
In Grossbritannien haben die zuständigen Copyright-Gesellschaften 2023 insgesamt 1,5 Milliarden Euro an Songschreiber, Komponisten und Verlage sowie Labels und Interpreten ausgezahlt. Da die Gelder proportional zur Präsenz eines Songs berechnet werden, könnte ein grosser Weihnachts-Hit wie «Last Christmas» den Rechteinhabern allein im Vereinigten Königreich über 11 Millionen Euro eingebracht haben.
Ein grosser Teil der Tantiemen für «Last Christmas» fliesst heute an Yioda Panayiotou, die ältere Schwester von George Michael. In seinem Testament wurden auch der Vater, Freunde und viele wohltätige Organisationen bedacht. Die Hauptbegünstigten waren aber seine zwei Schwestern, Yioda und Melanie. Melanie Panayiotou hatte George Michael als Hair-Stylistin und Visagistin jahrelang auf seinen Touren begleitet und ihn später im Kampf gegen seine Alkohol- und Drogensucht unterstützt. Sie starb genau drei Weihnachten nach ihrem Bruder, am 25. Dezember 2019. Seither ist die 66-jährige Yioda als einzige Überlebende der Geschwister Panayiotou Haupterbin. Auch sie war Friseuse, hielt sich aber immer im Hintergrund, so dass selbst die britischen Boulevardmedien nur wenig über sie wissen.
Eine gescheiterte Vernichtungsaktion
Achtunddreissig Weihnachten nach der Geburt von «Last Christmas» versucht eine Frau aus Schweden, die Rechte an dem Song zu kaufen. Nicht weil sie damit reich werden, sondern weil sie George Michael endgültig zum Verstummen bringen will. Die heute 35-jährige Hannah Mazetti hasst «Last Christmas», seit sie als Studentin in einem Café arbeitete, in dem der Song im Dezember in Endlosschleife lief. Er verdirbt ihr jeden Advent, bis sie zufällig von einem Bekannten aus der Musikbranche erfährt, dass es möglich sei, die Rechte an einem Lied zu kaufen.
Hannah Mazetti startet im Dezember 2022 gemeinsam mit ihrem Mann Tomas ein Crowdfunding. Das Paar, das in Göteborg lebt, erklärt Medien gegenüber, es wolle die Master-Kopie von «Last Christmas» erwerben und dann in einer Atommüll-Entsorgungsanlage begraben, damit es in den nächsten zwei Millionen Jahren niemand mehr hören müsse.
Bei der Aktion kommen umgerechnet 65 000 Euro zusammen. Ein beachtlicher Betrag, aber nur ein Bruchteil von dem, was allein der Rechteinhaber Warner Chappell UK jedes Jahr an dem Weihnachts-Hit verdient. Hannah Mazetti hat zudem einen Denkfehler gemacht: «Man würde nicht nur sehr viel mehr Geld brauchen, um einen so erfolgreichen Song zu kaufen, man könnte ihn selbst dann nicht stoppen», sagt der Musikbusiness-Experte Hamer-Hodges. Wenn ein Lied einmal veröffentlicht sei, habe jeder das Recht, dieses wiederzugeben oder zu singen. Wer das in der Öffentlichkeit tut, muss die Urheber zwar bezahlen, eine Bewilligung braucht er dafür aber nicht.
Eine Feier in den Walliser Alpen
Vierzig Weihnachten nachdem das Kult-Video in Saas-Fee gedreht wurde, entdeckt auch der Walliser Wintersportort das Werbepotenzial von «Last Christmas». Bis dahin haben die Tourismusverantwortlichen den Pop-Song kaum vermarktet, nun wollen sie mit verschiedenen Jubiläumsveranstaltungen endlich mehr Wham!-Fans auf das Hochplateau im Saastal locken. Beat Anthamatten findet das richtig. Er hatte bereits 2004, zum 20-Jahr-Jubiläum, ein grosses Fest geplant. Der Direktor des «Walliserhofs» wollte George Michael und Andrew Ridgeley als Stargäste einfliegen, doch diese verlangten eine Gage in Millionenhöhe. Aus der Party wurde nichts.
Zwanzig Jahre später werden die Saaser nun doch noch feiern. Saastal Tourismus organisiert am 21. Dezember 2024 in der Turnhalle der Gemeinde eine Wham!-Party, zu der Hunderte von Liebhabern erwartet werden. Den ganzen Dezember hindurch steht beim Dorfeingang eine Karaokebar, in der Fans mit einem glamourösen «Last Christmas»-Auftritt eine Übernachtung in der George-Michael-Suite im «Walliserhof» gewinnen können. Von Mitte Dezember bis Mitte Januar finden zweimal wöchentlich «Wham!-Walks» statt, an denen Interessierte, verkleidet mit Perücken und Outfits im Stil der achtziger Jahre, zu den Drehorten pilgern, Glühwein und Musik inbegriffen.
Vor allem aus der Schweiz, Deutschland, den Niederlanden und Grossbritannien werden «Last Christmas»-Nostalgiker erwartet. Aus diesen Ländern sind schon bisher die meisten Fans angereist. Dass es nicht mehr waren, schieben die Einheimischen auf das schlechte Wetter während des Drehs im Oktober 1984. Statt des einzigartigen Panoramas der Mischabel-Bergkette mit ihren Viertausendern sieht man im Video nur wolkenverhangene Berge. Wäre es damals sonnig gewesen, wäre «Last Christmas» die perfekte Gratiswerbung für Saas-Fee gewesen.
Hier oben in den Walliser Alpen hassen die Menschen «Last Christmas» nicht, das Lied ist mit ihrem Ort verbunden. In der Bar von Beat Anthamattens früherem Hotel läuft «Last Christmas» wieder. Und auch weiter unten im Tal ist es mit jedem Tag öfter zu hören. Vom 1. November bis zum 4. Dezember wurde Wham!s Weihnachts-Hit in der Schweiz bereits 3,7 Millionen Mal gestreamt, weltweit 315 Millionen Mal. Der Höhepunkt wird wie jedes Jahr am 25. Dezember erreicht sein, am 1. Januar verschwindet «Last Christmas» dann wieder aus unserem Leben.
Bis Next Christmas, wenn alles von vorne beginnt.