Sanft fielen Schneeflocken am Wohnzimmerfenster von Christa Müllers Haus vorbei, jede Flocke fing das Leuchten der Weihnachtslichter in den Häusern der Nachbarn auf der anderen Straßenseite ein. Die Kinder der Familie Schmidt von nebenan hängten Ornamente auf – man konnte ihre kleinen Schatten hinter den durchscheinenden Vorhängen tanzen sehen, ihre Aufregung war selbst aus der Ferne sichtbar. Die meisten Häuser in der Lindenstraße erstrahlten in Wärme und Feierlichkeit, bunte Lichterketten bahnten sich leuchtende Wege durch die zunehmende Dunkelheit des Heiligabends.
Christas eigenes Heim stand dunkel, abgesehen von dem Feuer, das im Kamin knisterte, und einer einzelnen Lampe neben ihrem Sessel. Der Kaminsims darüber erstreckte sich kahl und leer – sie hatte sich nicht überwinden können, die Dekorationen in diesem Jahr auszupacken. Nicht ohne Richard. Das Haus fühlte sich zu leise, zu still an, als hielte auch es den Atem an und warte auf eine Freude, die nicht zurückkehren würde.
Sie hob ihre Teetasse mit zitternden Händen und ihr Blick fiel auf das silbergerahmte Foto auf dem Beistelltisch. Richards Augen falteten sich an den Ecken auf diese Weise, die sie so geliebt hatte, sein Arm war sicher um ihre Schultern geschlungen, als sie vor ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsbaum standen. Vor nunmehr zweiundvierzig Jahren.
„Ich vermisse dich zu Weihnachten mehr“, flüsterte sie in den leeren Raum, ihre Stimme versagte. „Weißt du noch, wie du immer ‚O Tannenbaum‘ so schief gesungen hast, während ich gebacken habe? Ich würde alles darum geben, dieses schreckliche Singen noch einmal zu hören.“
Die Standuhr im Flur schlug sechs, die tiefen Glockenklänge hallten durch die Stille. Christa stellte ihren Tee ab und erhob sich mühsam aus dem Sessel, ihre Gelenke protestierten gegen die Kälte. In der Küche lag ein Stapel ungeöffneter Weihnachtskarten auf der Theke, ihre fröhlichen roten und grünen Umschläge wirkten wie eine Veralberung der Jahreszeit. Sie hatte sie im Oktober gekauft, entschlossen, sich wieder mit alten Freunden zu verbinden, doch nun sammelten sie Staub. Die meisten dieser Freunde waren ebenfalls fort, weggezogen oder verstorben, und sie konnte es nicht ertragen, zu sehen, wie klein ihr Adressbuch geworden war.
Sie nahm einen Elisen-Lebkuchen von der Anrichte – sie hatte sie gestern frisch gebacken, um die endlosen Stunden zu füllen. Es war nicht dasselbe, wie Richards Lieblingsweihnachtsessen zuzubereiten: die Weihnachtsgans, die er mit so viel Ehrerbietung tranchierte, die selbstgemachten Kartoffelknödel mit Rotkraut, und die Lebkuchen, mit denen sie sein Herz gewonnen hatte. Jetzt backte sie in kleinen Mengen und lernte Rezepte, die für Familien gedacht waren, auf Ein-Personen-Portionen zu reduzieren. Eine weitere Fähigkeit, die sie nie erlernen wollte.
Der Lebkuchen, gestern noch süß, schien jetzt jeglichen Geschmack und Würze verloren zu haben, als hätte ihre Einsamkeit ihm das Aroma geraubt. Sie stand am Küchenfenster und beobachtete, wie der Schnee ihren Garten in eine leere Leinwand verwandelte. Irgendwo in der Ferne hörte sie die leisen Melodien von Weihnachtsliedern, die Stimmen der Sänger trugen im Winterwind. Christa schloss die Augen und erinnerte sich, wie sie und Richard an Heiligabend durch die Nachbarschaft spazierten und bei jedem Haus mit einem Licht sangen. Seine Stimme mochte schief gewesen sein, aber sein Herz war immer in perfekter Harmonie mit der Jahreszeit.
Da hörte sie es – ein sanftes Kratzen an ihrer Haustür, so leise, dass sie zuerst dachte, es sei nur der Wind, der Schnee gegen das Haus drückte. Sie blieb still, lauschte. Da war es wieder, deutlicher diesmal, gefolgt von etwas, das wie ein Wimmern klang.
Christa zögerte, ihre Hand war auf halbem Weg zum Türgriff. In all ihren Jahren in der Lindenstraße hatte nie jemand an Heiligabend an ihre Tür geklopft – alle waren immer mit ihren eigenen Feierlichkeiten beschäftigt. Das Kratzen kam erneut, jetzt drängender.
Sie drehte den Griff und öffnete die Tür, ließ eine Wirbel aus Schneeflocken und bitterer Kälte herein. Einen Moment lang sah sie nichts als Dunkelheit und fallenden Schnee. Dann schaute sie nach unten.
Ein kleiner schwarz-brauner Schnautzer stand auf ihrer Fußmatte, sein struppiges Fell mit Schnee bedeckt, wie mit Puderzucker. Der Hund schaute zu ihr auf, mit dunklen, hoffnungsvollen Augen, sein winziger Schwanz wedelte trotz der Kälte. Etwas in Christas Brust lockerte sich beim Anblick – ein Knoten, den sie nicht einmal bemerkt hatte.
„Oh, du armes kleines Ding“, hauchte sie, ein Lächeln zog an ihren Lippen, das erste Mal seit Tagen. Sie beugte sich hinunter, nahm das zitternde Tier in ihre Arme. Sein Fell war kalt und feucht gegen ihren Pullover. „Komm rein, komm aus diesem Wetter.“
Christa schloss die Tür gegen die Kälte und trug ihren unerwarteten Besucher ins Wohnzimmer. Sie nahm die weiche Decke vom Rücken von Richards altem Sessel – dem, unter dem er während der Abendnachrichten immer eingeschlafen war – und wickelte sie sanft um den Hund. Dessen Zittern ließ allmählich nach, als sie sich wieder in ihren Sessel setzte und das kleine Bündel in ihrem Schoß hielt.
Das Feuer knisterte und knackte, warf tanzende Schatten an die Wände. Der Hund kuschelte sich näher, legte seinen Kopf mit vollkommenem Vertrauen an ihren Arm, als hätte er sie schon immer gekannt. Christa fand sich selbst im Flüsterton sprechend, ihre Stimme kaum mehr als ein Wispern.
„Es ist so ruhig hier“, sagte sie dem Hund, während sie über sein langsam trocknendes Fell strich. „Mein Richard ist jetzt seit drei Jahren weg. Manchmal…“ Sie schaute sich im leeren Raum um, auf den kahlen Kaminsims und die einzelne Teetasse auf dem Beistelltisch. „Manchmal vergesse ich, wie es ist, jemanden sonst im selben Raum atmen zu hören.“
Der Hund hob den Kopf und leckte ihre Hand, sein Schwanz schlug sanft gegen die Decke. Christa spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, aber zum ersten Mal seit langem waren es nicht nur traurige.
„Nun“, sagte sie und kraulte hinter den Ohren des Hundes, „ich schätze, du kannst diese Nacht hier bleiben. Nach Weihnachten suchen wir nach deiner Familie.“ Der Gedanke an Gesellschaft, auch wenn sie nur vorübergehend war, wärmte sie mehr als das Feuer. Sie überlegte, welche Leckereien sie in der Vorratskammer haben könnte, die für einen Hund geeignet wären.
Der Gedanke an Hunde und Leckereien weckte eine Erinnerung, und Christa hob den Schnauzer vorsichtig aus ihrem Schoß. „Warte hier“, sagte sie ihm, obwohl er ihr trotzdem folgte – er trottete ihr hinterher, als sie zum Flurschrank ging. Im hinteren Teil, hinter Wintermänteln und Stiefeln, stand ein Karton mit der Aufschrift ‚Lumpi‘ in Richards ordentlicher Handschrift.
Ihre Hände zitterten leicht, als sie ihn öffnete. Lumpi war ihr Geschenk zum Hochzeitstag gewesen – ein ungeschickter Cocker-Spaniel-Welpe, der die sanfteste Seele hatte, die sie jemals gekannt hatte. Er war sechs Monate vor Richard verstorben, und manchmal glaubte sie, dass der Verlust beider so nah beieinander ihren Schmerz verdoppelt hatte.
In der Kiste fand sie, was sie suchte: Lumpis Weihnachtspullover, von ihrer Nachbarin Frau Meier handgestrickt, bevor diese nach Bayern gezogen war. Das rot-weiße Muster war noch immer hell, obwohl das Garn mit der Zeit leicht pillte. Christa hielt ihn hoch und erinnerte sich daran, wie stolz Lumpi jedes Weihnachten ausgesehen hatte, wenn er ihn trug.
Der Schnauzer saß geduldig, während sie den Pullover über seinen Kopf zog. Er war komisch groß, rutschte von einer Schulter wie ein modischer Oversize-Look, aber der Hund schien begeistert, drehte sich im Kreis, um sein neues Outfit zu zeigen. Christa fand sich selbst lachend – tatsächlich lachend – das erste Mal seit, an das sie sich erinnern konnte.
Doch während sie den kleinen Hund durch ihr Wohnzimmer stolzieren sah, schlich sich ein anderer Gedanke ein, der die Wärme ihres Glücks stahl. Irgendwo da draußen vermisste eine Familie dieses kostbare Wesen. Sie stellte sich Kinder vor, die wach lagen, viel zu besorgt um ihr verlorenes Haustier, um den Weihnachtsmann zu erwarten. Eltern, die die verschneiten Straßen entlangliefen und in die Dunkelheit riefen. Ihr Geist beschwor das Bild von einer Weihnacht, die sich von Freude in Verzweiflung verwandelte, alles, weil ihr geliebtes Haustier weggelaufen war.
Christa schaute auf die Uhr – es war erst 18:30 Uhr. Früh genug, um zu suchen, spät genug, um die Menschen für Heiligabend zu Hause zu finden. Sie sah auf den Hund hinunter, der jetzt zufrieden am Feuer in seinem übergroßen Pullover zusammengerollt lag.
„Es tut mir leid, Kleiner“, sagte sie leise, „aber wir können nicht bis nach Weihnachten warten. Irgendjemand da draußen vermisst dich schrecklich.“ Sie stand auf und straffte ihre Schultern mit neuem Elan. „Und ich weiß genau, wie sich das anfühlt.“
Christa fand Lumpis alte Lederleine in der Schachtel, ihre braune Oberfläche war von den vielen Morgenrunden glatt gescheuert. Sie befestigte sie am Halsband des Schnauzers und wickelte sich in ihren wärmsten Wollmantel, zog Stiefel und einen gestrickten Schal an. Der Hund wartete geduldig an der Tür, sein geliehener Pullover rutschte wieder schief.
Der Schnee fiel nun dichter, große Flocken fingen in Christas grauen Haaren, als sie die Stufen zu ihrer Haustür hinabstieg. Die Straße der Lindenstraße sahen aus wie etwas aus einer Weihnachtskarte – makellos weißer Schnee bedeckte jede Oberfläche, bunte Lichter spiegelten sich in der kristallinen Decke. Aber die Schönheit fühlte sich irgendwie einsam an, mit den meisten Häusern, die entweder dunkel waren oder nur das Flimmern von Fernsehbildschirmen durch ihre Fenster zeigten.
Sie begann mit dem Haus nebenan, dem der Familie Schmidt. Keine Antwort – wahrscheinlich bei ihrer Tochter in Hamburg, wie jedes Weihnachten. Im Haus der Familie Weber auf der anderen Straßenseite öffnete ein gestresst aussehender Mann die Tür gerade weit genug, um bei ihrer Frage den Kopf zu schütteln, bevor er sie schnell wieder zuschlug.
Haus für Haus wiederholte sich das Muster. Leere Häuser. Eilige Ablehnungen. Geschlossene Türen. Der Schnauzer trabte treu neben ihr her, scheinbar unbeeindruckt von der Kälte oder dem zunehmenden Schnee. Christa fand sich selbst redend, während sie gingen, ihre Stimme leise in der gedämpften Winterluft.
„Weißt du, Lumpi liebte Nächte wie diese“, sagte sie dem kleinen Hund, während sie Schnee von seinem Fell bürstete. „Er hüpfte durch die Landschaft wie ein Kaninchen und kam dann mit Schnee bedeckt herein. Richard lachte sich immer schlapp…“ Sie lächelte bei der Erinnerung, auch wenn Tränen drohten, auf ihren Wangen zu gefrieren. „Heiligabend war immer sein Lieblingsabend. Richard dekorierte den Baum, rauchte eine Zigarre dabei, die gönnte er sich einam im Jahr, dazu ein paar Gläser Sherry und für mich machte er heiße Schokolade.“
Sie erreichten die Ecke der Rosenstraße, wo mehr Häuser mit Festtagslichtern erstrahlten. Christa zog ihren Mantel enger gegen den Wind. „Wir haben früher auch Lichter aufgestellt“, vertraute sie ihrem kleinen Begleiter an. „Richard verbrachte Stunden damit, alles genau richtig zu arrangieren – weiße Lichter in jedem Fenster, die durch den Frost wie Sterne funkelten. Jede Nacht stand er draußen auf dem Hof, studierte seine Arbeit, machte winzige Anpassungen, bis es perfekt war. ‚Ein Haus sollte an Weihnachten leuchten‘, sagte er immer. ‚Als hielte es alle Freude in sich.’“
Der Schnauzer schaute mit diesen ausdrucksvollen Augen zu ihr auf, als ob er jedes Wort verstehen würde. Er presste sich enger an ihr Bein, während sie gingen, bot leisen Trost. Christa wischte sich mit ihrer behandschuhten Hand über die Augen und war dankbar für die Gesellschaft, auch wenn sie nur vorübergehend war.
Da sah sie es – ein stattliches Haus an der Ecke von Lindenstraße und Rosenstraße, jedes Fenster lebendig mit goldenem Licht. Der Klang von Lachen schwebte über den schneebedeckten Rasen, zusammen mit dem reichhaltigen Duft von Bratengeruch und den sanften Klängen von „Stille Nacht“, gespielt auf einem Klavier.
Durch das große Erkerfenster konnte sie eine Familie sehen, die sich um einen scheinbar endlosen Esstisch versammelte, beladen mit dampfenden Gerichten und dekoriert mit leuchtenden Kerzenleuchtern. Ein Weihnachtsbaum, der fast bis zur Decke reichte, glänzte in der Ecke, und Kinder huschten zwischen den Erwachsenen herum wie aufgeregte Vögel.
Christa blieb auf dem Bürgersteig stehen, ihr Herz wurde schwer angesichts dieses Anblicks. Es war, als blickte sie durch ein Fenster in die Vergangenheit – in all die Heiligabende, die früher ihr eigenes Heim mit so viel Wärme füllten, als ihr Mann, Freunde und Familie zusammenkamen. Der kleine Schnauzer saß im Schnee neben ihr, und sie bemerkte, dass sein Schwanz nicht mehr so frenetisch wedelte wie bei den anderen Häusern.
„Sie wirken so glücklich“, flüsterte sie dem Hund zu. „Sicherlich, wenn du zu ihnen gehören würdest, wären sie draußen auf der Suche, nicht feiernd.“ Doch selbst als sie das sagte, stand der Hund auf und machte ein paar Schritte auf das Haus zu, schaute sie erwartungsvoll an. Als sie zögerte, gab er ein leises Winseln von sich und wedelte mit dem Schwanz, als würde er sie ermutigen, weiterzugehen.
Christa straffte ihre Schultern und machte sich auf den Weg den geräumten Weg hinauf, jeder Schritt fühlte sich schwerer an als der letzte. Bevor sie den Mut verlieren konnte, drückte sie die Türklingel und hörte sie drinnen über den Klängen der Feier ertönen.
Die Tür öffnete sich in einem Schwall von warmer Luft und Küchengerüchen, enthüllte eine Frau in ihrem Alter, die eine mit Mehl bestäubte Schürze und einen leicht abgehetzten Ausdruck trug.
„Es tut mir so leid, Sie an Heiligabend zu stören–“ begann Christa, aber das Keuchen der Frau schnitt ihr das Wort ab.
„Max!“ rief die Frau aus, ihre Hand flog zu ihrem Mund. „Oh mein G… – Max!“ Sie schaute vom Hund zu Christa und zurück, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich bin Anna“, brachte sie hervor. „Und es sieht so aus, als hätten Sie unseren kleinen Ausreißer gefunden.“
Bevor Christa antworten konnte, tupfte sich Anna mit ihrer Schürze die Augen. „Er war der Hund meiner Mutter“, erklärte sie, bückte sich, um Max‘ Fell zu streicheln. „Mama ist im Oktober gestorben. Max war ihr ständiger Begleiter durch ihre Krankheit – er wich nicht eine Minute von ihrer Seite.“ Ihre Stimme brach. „Wir haben ihn geerbt, aber ehrlich gesagt, waren wir so überwältigt von allem…“
Kinderlachen kam von Drinnen, und Annas Augen weiteten sich. „Oh! Die Tür – mein Cousin Felix ist vor etwa einer Stunde mit seinen Kindern angekommen. Er muss die Tür offen gelassen haben, während er die Kinder aus der Kälte reinholte. Wir dachten, Max schläft oben in Mamas altem Zimmer. Er kuschelt sich gerne in ihren Lesesessel…“
Max bellte nun vor Aufregung, obwohl Christa bemerkte, dass er sich weiterhin gegen ihre Beine drückte, selbst als er Anna begrüßte. Der übergroße Pullover war fast vollständig von einer Schulter gerutscht, was ihn liebenswert verwuschelt aussehen ließ.
„Bitte“, sagte Anna, trat von der Tür zurück. „Sie müssen reinkommen und sich aufwärmen. Sie haben uns unser Weihnachtswunder direkt an die Tür gebracht – das Mindeste, was wir tun können, ist, sie zum Abendessen einzuladen.“
Christa zögerte, aber die Wärme und die köstlichen Düfte, die aus dem Haus strömten, waren nach der kalten Nachtluft unwiderstehlich. Sie fand sich selbst in eine geschäftige Küche geleitet, Max trottete glücklich an ihren Fersen.
„Kommt mal Alle her!“, rief Anna. „Schaut, wen diese nette Dame gefunden hat!“
Der Raum brach in freudiges Chaos aus. Kinder stürzten sich auf Max, Erwachsene äußerten sich zu seinem Pullover, und ein großer Mann, der Cousin Felix sein musste, entschuldigte sich überschwänglich wegen der Tür. Christa wurde zu einem Platz am Tisch geleitet, ein Teller mit gebratenem Gänsefleisch und allem was dazu gehörte erschien wie von Zauberhand vor ihr.
„Großmutter wäre so glücklich, dass Max zu Weihnachten hier ist“, sagte ein junges Mädchen mit Zöpfen und zeigte mit ihrer Sofortbildkamera auf den Hund. „Kann ich ein Foto von Ihnen mit Max machen? Ich habe gerade die Kamera bekommen – die sind total wieder im Trend.“
Christa lächelte, erinnerte sich an die Sofortbildkamera, die sie in der Ausbildung hatte. „Natürlich, mein Schatz.“
Der Blitz ging aus und bald entwickelte sich ein quadratisches Foto auf dem Tisch zwischen ihnen. Christa sah zu, wie ihr eigenes Bild langsam erschien, Max, der sich zufrieden auf ihrem Schoß niedergelassen hatte, beide im warmen Schein von Weihnachtslichtern und umgeben von seiner Familie.
Während Teller gereicht und Gläser gefüllt wurden, fand Christa sich selbst dabei, Geschichten über Lumpi, ihren Cocker Spaniel, und die Weihnachtsfeste, die sie und Richard feierten, zu erzählen. Die Familie hörte mit echtem Interesse zu, lachte über ihre Beschreibung von Lumpis erstem Zusammentreffen mit Geschenkpapier und nickte mitfühlend, wenn ihre Stimme zittrig wurde, wenn sie von Richard sprach.
„Richard Müller?“, fragte Annas Schwiegervater plötzlich von der anderen Seite des Tisches. „Von Müllers Eisenwarenladen am Ende der Hauptstraße?“
Christa nickte, überrascht. „Ja, das war mein Ehemann.“
Das Gesicht des älteren Mannes erleuchtete sich. „Dann müssen Sie Richards Christa sein! Meine verstorbene Frau Elise – Annas Mutter – sie war Richards Cousine. Durch die Hoffmann-Seite der Familie.“
„Lise Hoffmann?“ Christa legte die Gabel nieder, Erinnerungen strömten zurück. „Richard hat sie oft erwähnt. Wir haben uns nie getroffen, aber er sagte immer, wir hätten uns wunderbar verstanden. Sie war die Gärtnerin, nicht wahr?“
Annas Augen glänzten. „Mamas Rosen gewannen jahrelang auf dem Jahrmarkt Preise. Sie hätte es geliebt, Sie hier zu wissen. Es ist, als wäre…“ Sie schaute zu Max, der immer noch in der Nähe von Christas Stuhl schwebte, „…als hätte sie irgendwie geholfen, uns alle heute Abend zusammenzubringen.“
„Wissen Sie“, sagte Felix’ Frau Christina warmherzig und reichte das Kartoffelpüree, „wir machen hier jeden Sonntag ein Abendessen. Es war Elises Tradition – sie sagte immer, dass Essen besser schmeckt, wenn Familie um den Tisch sitzt.“
Anna nickte begeistert. „Sie müssen unbedingt kommen. Keine Widerrede – Sie gehören jetzt zur Familie. Wir haben all die Jahre nur darauf gewartet, Sie endlich kennenzulernen!“
Christa spürte Wärme in ihrer Brust aufsteigen, anders als das einsame Weh von zuvor. Sie schaute um den Tisch zu diesen Fremden, die irgendwie Familie waren, zu Max, der zufrieden an ihren Füßen lehnte, zum Sofortbildfoto neben ihrem Teller, das wie ein Versprechen für mehr erinnerungswürdige Momente wirkte.
Als das Essen sich dem Ende zuneigte und die Leute begannen, Abwasch zu machen, tippte Anna Christa sanft auf den Arm. „Können wir kurz reden?“ Sie nickte Richtung Wohnzimmer, weg vom lautstarken Chaos des Tellerwaschens und Resteverpackens.
Sie ließen sich auf dem Sofa nieder, Max hüpfte sofort auf, um sich zwischen ihnen einzunisten. Anna lächelte, aber Christa konnte Tränen in ihren Augen sehen.
„Wissen Sie“, begann Anna, Max‘ Fell abwesend streichelnd, „meine Mutter liebte diesen kleinen Kerl mehr als alles andere. Er war ihr ständiger Begleiter, besonders nachdem Papa ging. Aber seit sie weg ist…“ Sie pausierte, sammelte sich. „Wir sind ehrlich gesagt überfordert. Die Jungs sind jetzt in der Oberstufe – David schaut sich Universitäten an, Jannis hat Sport. Ich bin entweder bei Turnieren oder begleite die Unibesichtigungen jedes Wochenende.“
Christa nickte, es dämmerte ihr so langsam, was da wohl kam.
„Max braucht mehr, als wir ihm geben können“, fuhr Anna fort. „Er ist jetzt elf – in seinen Gewohnheiten fest verankert, daran gewöhnt, der Augapfel, das Ein und Alles eines Menschen zu sein. Wir haben uns so um ihn gesorgt. Der Gedanke an ein Tierheim war unerträglich, in seinem Alter…“ Sie beobachtete, wie Max sich in seinem übergroßen Pullover neu positionierte, um seinen Kopf auf Christas Schoß zu legen. „Aber ihn heute Abend bei Ihnen zu sehen…“
Christas Hand verharrte auf Max‘ Fell. „Oh“, hauchte sie.
„Würden Sie in Betracht ziehen, ihn zu nehmen?“, fragte Anna sanft. „Sie müssen nicht sofort antworten. Aber so, wie er Sie ansieht… genau so hat er meine Mama immer angesehen.“
Christa fühlte, wie Tränen über ihre Wangen rollten. „Sind Sie sicher? Er ist der Hund Ihrer Mutter -“
„Mama hätte das gewollt“, unterbrach Anna sanft. „Sie hätte Sie geliebt. Und zu wissen, dass Max jemanden hätte, mit dem er Weihnachtskekse teilen könnte, jemanden, bei dem er sich vor dem Feuer einkuscheln könnte…“ Sie lächelte durch ihre eigenen Tränen. „Versprechen Sie nur, dass Sie mit ihm zu den Sonntagabendessen kommen? Mama sagte immer, ein Hund macht Familienzusammenkünfte komplett.“
Christa schaute auf Max hinunter, der sie mit diesen ausdrucksvollen Augen ansah, die ihr Herz an ihrer Tür vor nur wenigen Stunden gefangen genommen hatten. „Wir würden liebend gerne zu den Sonntagessen kommen“, flüsterte sie, ihre Stimme schwer vor Emotion. „Wir beide.“
Der Rückweg durch den sanft fallenden Schnee fühlte sich anders an als ihre frühere verzweifelte Suche. Max trottete neben ihr her, nicht mehr eine verlorene Seele, sondern ein Gefährte. Sein übergroßer Pullover war endlich komplett heruntergerutscht, und Christa trug ihn, sie hatte bereits das Muster für einen neuen Pullover im Kopf, der ihm richtig passen würde.
In ihrem Haus schien die Stille, die sich zuvor so erdrückend angefühlt hatte, nun friedlich. Sie baute das Feuer wieder auf und richtete Lumpis altes Bett in der Nähe ein, steckte eine frische Decke hinein. Aber in dem Moment, als sie sich mit ihren Stricknadeln in ihrem Sessel niederließ, verließ Max das Bett und hüpfte stattdessen auf ihren Schoß.
„Nun, ich schätze, das funktioniert auch“, kicherte sie, während sie ihr Garn um ihn herum anpasste. Ihre Finger bewegten sich stetig, schlugen Maschen für einen Pullover an, der besser zu seiner kleineren Statur passen würde. Das sanfte Klickern der Stricknadeln erfüllte den Raum, während Max‘ Atem gegen ihre Beine langsam und beständig wurde.
Christa schaute zu dem eingerahmten Foto auf dem Beistelltisch – sie und Richard zu ihrem ersten Weihnachten – aber jetzt war es nicht mehr allein. Daneben stand das Sofortbild von früher am Abend, das sie und Max im Sessel neben Annas Weihnachtsbaum zeigte, die beide überraschend zu Hause wirkten unter den funkelnden Lichtern und der versammelten Familie.
„Du hättest ihn geliebt, Richard“, sagte sie leise in den stillen Raum hinein. Ihre Stimme war jetzt nicht mehr traurig, sondern zärtlich vor Erinnerung. „Danke, dass du dafür gesorgt hast, dass ich dieses Weihnachten nicht allein bin.“ Sie lächelte hinunter auf den schlafenden Hund in ihrem Schoß. „Obwohl ich das Gefühl habe, dass du dabei ein wenig Hilfe von Liese hattest.“
Draußen fiel der Schnee weiter und bedeckte die Lindenstraße mit frischem Weiß. Aber drinnen erstrahlte Christas Haus wieder in Wärme, nicht mehr leer, nicht mehr still. Und wenn sie genau lauschte, konnte sie fast das Echo von Richards schiefem Weihnachtsliedersingen im sanften Geräusch von Max‘ zufriedenen Seufzern hören.
Euch allen gesegnete und frohe Weihnachten!